Tagesspiegel, 11.5.2000 EU-Beitritt Türkei Generalstab "empfiehlt" Regierung demokratische Reformen Susanne Güsten "Demokratisieren - marsch, marsch!" Diesen Tagesbefehl hat der türkische Generalstab an die Regierung in Ankara ausgegeben, um den EU-Beitrittsprozess des Landes voranzutreiben. Fünf Monate ist die Anerkennung der türkischen EU-Kandidatur in Helsinki her, doch den ersehnten Beitrittsgesprächen ist das Land seither keinen Schritt näher gekommen. Denn Vorbedingung der Union für die Aufnahme von Beitrittsverhandlungen mit der Türkei ist deren Erfüllung der Kopenhagener Kriterien für Demokratie und Rechtsstaatlichkeit; und dazu sind eine ganze Reihe einschneidender Reformen notwendig, vor denen die Regierung bisher zurückschreckte - nicht zuletzt aus vorauseilendem Gehorsam gegen die mächtigen Militärs. Die Generäle selbst sind weniger zimperlich und "empfahlen" der Regierung jetzt konkrete Reformen - bis hin zur Stärkung der zivilen Kräfte gegenüber den Militärs. "Entgegen einer weitverbreiteten Ansicht treten die türkischen Streitkräfte entschieden für Demokratisierung, Menschenrechte und Rechtsstaatlichkeit ein und wünschen Fortschritte auf dem Weg zur Vollmitgliedschaft in der EU", erklärte ein Vertreter des Generalstabes kürzlich einer überraschten Runde von hohen Regierungsvertretern. "Ich spreche damit für die Befehlshaber." Konkrete Vorstellungen hatte der Mann vom Militär auch gleich dabei - und zwar bis in die Formulierungsvorschläge für die Verfassungsänderungen ausgearbeitet. Die Todesstrafe solle abgeschafft und das entsprechende Europaratsprotokoll unterzeichnet werden, empfahlen die Generäle darin. Außerdem könne jene Verfassungsbestimmung aufgehoben werden, die bisher alle Dekrete und Gesetze der Militärregierung von 1980 der gerichtlichen Kontrolle entzieht. Am erstaunlichsten war aber der dritte Vorschlag, den der Generalstab der Regierung übermittelte. Danach soll der Nationale Sicherheitsrat reformiert werden - das Gremium, über das die Militärs unmittelbar Einfluss auf die Staatsgeschäfte ausüben und das daher als großer Stolperstein auf dem Weg nach Europa gilt. Der Sicherheitsrat, dessen Rolle in der Verfassung festgeschrieben ist, dient als Transmissionsriemen zwischen Militär und Regierung. Bisher gehören ihm Generalstabschef Kivrikoglu und die Oberkommandierenden der vier Teilstreitkräfte auf der militärischen Seite und der Ministerpräsident sowie die Minister für Äußeres, Inneres und Verteidigung auf der zivilen Seite an; den Vorsitz führt der Staatspräsident. Das Gremium berät monatlich über alle aktuellen Fragen der Innen- und Außenpolitik und "teilt dem Kabinett seine Ansichten zur Beschlussfassung mit", wie es in der Verfassung heißt. Der Vorschlag des Generalstabes sieht zwei Änderungen daran vor: Zum einen sollen auch die Vizeministerpräsidenten sowie die Minister für Justiz, Wirtschaft und Finanzen in den Sicherheitsrat aufgenommen werden, wodurch den fünf Militärs dort statt bisher fünf nun bis zu zehn Zivilisten gegenüber sitzen würden - und die zivile Seite stets die Stimmenmehrheit hätte. Zum anderen soll das Gremium in der Verfassung zu einem "beratenden Organ" herabgestuft werden, das dem Kabinett lediglich "Empfehlungen" macht. Die EU-Botschafterin in Ankara, Karen Fogg, begrüßte die Vorschläge des Generalstabes bereits als "ausgesprochen positiv". Es gibt keinen Anlass zum Zweifel, dass die "Empfehlungen" der Generäle auch von den türkischen Zivilbehörden angenommen werden.
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