Berliner Zeitung, 10.5.2000

MILITÄRANALYSEN
Angst vor "Schurkenstaaten"

Roland Heine

In der Debatte um die Notwendigkeit der Nationalen Raketenabwehr (NMD) verweisen die Befürworter auf neuere Bedrohungsanalysen. Darin werden die USA zunehmend als von feindlichen Massenvernichtungswaffen gefährdet dargestellt. 1998 hatte zunächst eine vom amerikanischen Ex-Verteidigungsminister Rumsfeld geleitete Kommission der überraschten Öffentlichkeit einen Bericht präsentiert, wonach Nordkorea und Iran "die Fähigkeit erwerben könnten, die USA mit ballistischen Raketen zu treffen, falls sie die Entscheidung dazu träfen". Beide Staaten würden dieses Ziel dann in fünf Jahren erreichen, der Irak in zehn Jahren. Die Rumsfeld-Bericht kritisierte damit US-Geheimdienstanalysen, die eine Vorwarnzeit von 15 Jahren angaben. Die Kommission befand aber nicht, dass diese Entwicklung wahrscheinlich sei, ebenso wenig behauptete sie, dass dies die einzig vorstellbare Bedrohung wäre.

In einem CIA-Bericht für den amerikanischen Kongress aus dem Jahre 1999 wurden dann neun Staaten aufgeführt, deren Programme zur Herstellung von Massenvernichtungswaffen Anlass zu Besorgnis für die USA geben würden: Iran, Irak, Nordkorea, Libyen, Syrien, Sudan, Indien, Pakistan und Ägypten. Dem Bericht zufolge arbeiten die meisten von ihnen am Bau von Trägerraketen, insbesondere Iran wird als auf diesem Gebiet sehr fortgeschritten dargestellt. Anfang 2000 vermeldete die CIA laut "New York Times" eine weitere Zuspitzung. Der Geheimdienst, so hieß es, habe die nuklearen Fähigkeiten Irans neu bewertet und schließe im Gegensatz zu früher eine iranische Atombombe nicht mehr aus.

Auf der sicherheitspolitischen Konferenz Anfang Februar in München, wo die Differenzen zwischen den USA und den Europäern in Sachen NMD deutlich wurden, benannte US-Verteidigungsminister Cohen vier "Schurkenstaaten", deren Aktivitäten rasche Abwehrmaßnahmen notwendig machen würden: Iran, Irak, Nordkorea und Libyen. Alle vier seien nicht nur als gefährliche Proliferateure von Massenvernichtungsmitteln, sondern auch von Raketentechnik anzusehen. Auffallend war, dass das lange verteufelte Syrien - es verfügt über modernisierte nordkoreanische Raketen und kann chemische Kampfstoffe zumindest herstellen - in dieser Kategorie nicht einmal mehr erwähnt wurde. Dies belegt, wie fragwürdig die amerikanische Etikettierung ist. Denn der Grund, weshalb Syrien ausgespart wurde, ist klar: US-Präsident Clinton möchte sich am Ende seiner Amtszeit gern als Vater eines syrisch-israelischen Kompromisses feiern lassen