Die Welt, 11.5.2000 Türkische Armee will Todesstrafe abschaffen Mächtiger Generalstab akzeptiert Öffnung in Richtung EU-Beitritt - Einrichtung eines Europa-Büros Von Baha Güngör Ankara - Der türkische Generalstabschef Hüseyin Kivrikoglu hat in den vergangenen Monaten mehrfach zu erkennen gegeben, dass der Europakurs seines Landes auch von der Armee unterstützt wird: "Wir werden uns in die Europäische Union integrieren", sagte er wiederholt. Vom Generalstab in Ankara, dem Machtzentrum des Nato-Staates, sind nun neue Signale dafür entsandt worden, dass das türkische Militär Ja zu weiterer Demokratisierung sagt. "Es kann aber noch keine Rede davon sein, dass der Generalstab, wie in den EU-Ländern üblich, kurzfristig dem Verteidigungsministerium untergeordnet wird", sagen Beobachter in Ankara. Andererseits aber wollen die Generäle ihrem Land keinen Stein mehr in den Weg legen, wenn es weiterhin nach der vor 13 Jahren in Brüssel beantragten Vollmitgliedschaft in der EU strebt. Ferner will Ankara ein Sekretariat einrichten, um die Annäherung an die EU besser zu koordinieren. Wie die Zeitung "Turkish Daily News" am Mittwoch berichtete, will Ministerpräsident Bülent Ecevit damit die Annäherung an die EU beschleunigen und zugleich die Kompetenzstreitigkeiten zwischen den einzelnen Ministerien und Abteilungen beenden. Vor allem seit der Eingliederung der Türkei in die Reihen der Beitrittskandidaten vergangenen Dezember in Helsinki nehmen die positiven Signale zu. Letztes Beispiel dafür ist die Entscheidung des Generalstabs, weitere ordentliche zivile Mitglieder im Nationalen Sicherheitsrat zu akzeptieren. Bislang sind in dem Verfassungsgremium, das einmal monatlich unter Vorsitz des Staatspräsidenten tagt, die zivile Regierung und die Militärs zahlenmäßig ebenbürtig vertreten. Dennoch wird das für die Staatsführung maßgebliche Organ von den Soldaten dominiert. Die Beschlüsse und "Empfehlungen" des Nationalen Sicherheitsrates müssen laut Verfassung von der Regierung mit höchster Priorität behandelt und umgesetzt werden. Das hatte beispielsweise vor drei Jahren zum Sturz der damaligen Regierung unter Ministerpräsident Necmettin Erbakan geführt. Die Weichen für den Sturz der Regierung Erbakans wurden im Nationalen Sicherheitsrat gestellt. Der Druck der Armee auf die Abgeordneten war derart stark, dass sich ausreichend Parlamentarier der Regierungsfraktionen entschieden, ihre Parteien zu wechseln und die Regierung um ihre Mehrheit zu rauben. Die liberale türkische Tageszeitung "Milliyet" berichtete exklusiv über die neuen Schritte des Generalstabs, der offenkundig eine weitere Lockerung der Zügel beschlossen hat. "Im Namen der Kommandanturebene" sagte ein namentlich nicht genannter Jurist: "Entgegen der allgemeinen Annahme unterstützen die Streitkräfte die Prozedur des Beitritts zur EU, die Demokratie, die Überlegenheit des Rechts und der Entwicklung der Menschenrechte." Eine entsprechende Vorlage des Generalstabs sei an Ecevit weitergeleitet worden. Danach sollen die Militärs auch damit einverstanden sein, den Verfassungsparagrafen zu ändern, der die während der Militärherrschaft zwischen 1980 und 1983 gefassten Beschlüsse vor juristischer Verfolgung schützt. Besonders interessant ist das signalisierte Einverständnis der Militärs mit der Streichung der Todesstrafe aus den türkischen zivilen und militärischen Strafgesetzbüchern. Obwohl seit Oktober 1984 kein Todesurteil mehr vollstreckt worden ist, warten in den Gefängnissen noch Dutzende rechtskräftig verurteilte Straftäter darauf, ob das Parlament und der Staatspräsident ihre Todesstrafe billigt. Der Prominenteste ist der Führer der militanten kurdischen Separatistenorganisation PKK, Abdullah Öcalan. Er war im vergangenen Jahr in Kenia von einem türkischen Sonderkommando festgenommen, in die Türkei gebracht und vom Staatssicherheitsgericht auf der Gefängnisinsel Imrali im Marmarameer wegen "Hochverrats" zum Tode verurteilt worden.
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