Berliner Zeitung, 13.5.2000 "Diese Rede wird Streit auslösen" Bundespräsident Rau wirbt für ein stärkeres Miteinander von Ausländern und Deutschen Peter Pragal BERLIN, 12. Mai. Je näher Johannes Rau dem Ende seiner Rede kommt, desto getragener klingt seine Stimme. "Wir brauchen einen breiten Konsens über Integration und Zuwanderung", sagt der Bundespräsident. "Darum bitte ich alle, die in unserer Gesellschaft Auftrag und Stimme haben: Streiten Sie über den besten Weg zu diesem Ziel. Aber so, dass weder Angst geschürt noch Illusionen geweckt werden." Die rund 700 Zuhörer lauschen still, mit nachdenklichen Gesichtern. Kein Zwischenruf oder Kommentar hat Rau in seinem Redefluss unterbrochen - aber auch kein Beifall. "Es kommt nicht auf die Herkunft an, sondern darauf, dass wir gemeinsam die Zukunft gewinnen." Mit diesem Satz beendet Rau seine Rede, packt sein Manuskript zusammen und geht gemessenen Schrittes von der Bühne. Jetzt erst klatscht das Auditorium. Nicht überschwänglich, eher höflich. "Das war eine Rede zum Zuhören", kommentiert Volker Hassemer von der Hauptstadt-Marketing-Gesellschaft "Partner für Berlin". Kein Vortrag, der Emotionen freisetzt. Wochenlange Vorbereitung Rau hat sich auf diesen Auftritt im Berliner "Haus der Kulturen der Welt" sehr gründlich vorbereitet. Schon Wochen zuvor hat er im engen Mitarbeiterkreis für die diesjährige "Berliner Rede" Ideen gesammelt und Kernaussagen diskutiert. Sechs Entwürfe, die er immer wieder ergänzt und korrigiert, manchmal auch Freunden und Experten zum Lesen gegeben hatte, gingen der Endfassung voraus. Als die Autorenrunde am Mittwochnachmittag zum letzten Mal zusammenkam, hat Rau noch eine neue Schlusspassage diktiert. Diese Rede, sagt ein Mitarbeiter, "trägt seine ganz persönliche Handschrift". Rau hat Klartext geredet und keinen geschont. "Es ist nicht schwer, in wohlsituierten Vierteln eine ausländerfreundliche Gesinnung zu zeigen", sagte Rau. Schwer werde das Zusammenleben dort, wo sich manche alteingesessene Deutsche wie Fremde fühlten im eigenen Land. Das sind deutliche Sätze, Worte, die nichts verkleistern und nichts beschönigen. Rau hat weder die Gutmenschen noch die Deutschtümler ausgelassen. Und auch die Zugereisten nicht, welche nach Raus Worten, die in Deutschland demokratisch festgelegten Regeln zu akzeptieren hätten. Er wolle "Präsident aller in Deutschland lebenden Menschen" sein, hatte Rau am Tage seiner Wahl im Mai vorigen Jahres erklärt. Aber auch schon als nordrhein-westfälischer Ministerpräsident hatte die Frage, wie das Zusammenleben von Menschen unterschiedlicher Herkunft gestaltet werden könne, in seiner Gedankenwelt einen zentralen Platz. Seit dem Brandanschlag von Solingen auf eine türkische Familie - ein Vorgang, der Rau nach eigener Aussage ernsthaft über Rücktritt nachdenken ließ - hat ihn dieses Thema umgetrieben, sagte der Bundespräsident. "Es ist eine Gesamtschau", kündigte Rau bereits am Vorabend seiner Rede an. Eine Bündel von Erfahrungen und Ratschlägen, von Sorgen und Wünschen. Die Rede werde nicht nur Zustimmung finden, sagte er voraus, "sondern auch Streit auslösen, quer durch die Parteien". Keine PR-Show "Berliner Rede" - dieser Begriff verbindet sich vor allem mit Roman Herzogs Ruck-Appell 1997 im Hotel Adlon. Das war ein spektakulärer Auftritt, vorbereitet nach allen Regeln der PR-Kunst. Rau schätzt solche Inszenierungen, die als intellektuelle "Events" angepriesen werden, überhaupt nicht. Er mache sich Sorgen, dass Mitarbeiter seinen Beitrag schon vorab als große Rede ankündigen könnten, hatte Rau am Vorabend geäußert. Denn ob eine Rede groß werde oder nicht, zeige sich immer erst hinterher. Rau hat sich bemüht, andere Akzente zu setzten als sein Vorgänger Herzog. Statt des Luxus-Hotels am Pariser Platz hat er zum Thema passend das "Haus der Kulturen der Welt" im Tiergarten gewählt. Zudem sollten auf Raus ausdrücklichen Wunsch nicht nur Diplomaten, Wirtschaftsleute und Politiker zuhören, sondern auch Schüler, Lehrer und Menschen, die sich beruflich mit Minderheiten und Menschen fremder Herkunft befassen. "Deutlicher konnte der Bundespräsident nicht werden", sagte der Unternehmer und ehemalige Deutsche Bahn-Chef Heinz Dürr. "Jetzt müssen andere was tun."
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