Badische Zeitung, 20.5.2000 Seit dem Suizid einer Asylbewerberin auf dem Frankfurter Flughafen ist Innenminister Schily außergewöhnlich großherzig Beck: Situation ist "katastrophal" Gebäude C 183 ist nur für 19 Tage vorgesehen Von unserem Redakteur Franz Schmider Möglich, dass Hauptkommissar Klaus Ludwig vom Bundesgrenzschutz Recht hat und es ein "reiner Zufall" ist, dass Bundesinnenminister Otto Schily in den vergangenen sieben Tagen nach dem 6. Mai sieben Menschen "aus humanitären Gründen" den Umzug vom Gebäude C 183 in das Asylbewerberheim Schwalbach erlaubte. Möglich, dass Horst Schäfer vom Flughafensozialdienst Recht hat, der politischen Druck entdeckt haben will, weil die "Unmenschlichkeit" des so genannten Flughafenverfahrens mit dem 6. Mai zu offensichtlich geworden sei. Möglich aber auch, dass jener Verwaltungsrichter Recht hat, der sagt, hier sei nur vorübergehend "ein Ventil geöffnet" worden, jetzt, wo sich so viele für die Situation im Gebäude C 183 des Frankfurter Flughafens interessieren. Ihren Namen hat sie mit Nahima H. angegeben, ihr Alter mit 40, ihre Nationalität mit Algerierin. Ob das alles zutrifft? Die Frau kann es nicht mehr beantworten. Nahima H. hat am 6. Mai ihr Halstuch am Handtuchhalter der Dusche festgeknotet und den Kopf durchgesteckt. Dann ließ sie sich fallen. Als man sie fand, war es zu spät. Inzwischen sind bei der Staatsanwaltschaft, beim Bundesgrenzschutz (BGS) und dem Innenministerium Zweifel an der Identität der Frau laut geworden. "Aber erst jetzt", wie Schäfer betont. Vorher hat sich niemand für die Frau interessiert. Am wenigsten der Bundesinnenminister. Dabei hatte der Anwalt von Nahima H. das Innenministerium bereits im Februar auf die angegriffene Gesundheit von Nahima H. hingewiesen. Die Frau lebte seit Sommer vorigen Jahres in dem tristen ehemaligen Lagerhaus, durch das man nur gelangt, wenn man eine vom BGS bewachte Schleuse passiert hat und in dem es nach Abgasen und Kerosin riecht. Vor dem Haus stehen reihenweise grüne Fahrzeuge, meist auch ein Panzerspähwagen - weil die israelische Fluggesellschaft El-Al im Nachbargebäude untergebracht ist, wie Ludwig beteuert. Aber das wissen die Bewohner von Gebäude C 183 nicht. Sie sehen nur die Fahrzeuge, sie sehen die Überwachungskameras in den Fluren. Und sie sehen die nackten Wände, die Metall-Hochbetten, die zugeschweißten Fensterrahmen, die Absperrgitter mit den Metallstreben, die sich oben zu einem Y öffnen, durch das Stacheldraht gezogen ist. Der Fußboden ist grau, genau wie die Betonwände der umliegenden Gebäude, auf deren Dach Rollen von Nato-Zaun liegen, und grau ist vor allem der Alltag. Zweimal pro Tag fährt ein BGS-Bus die Bewohner von hier aus für eine halbe Stunde zum Beinevertreten zu einem eingezäunten Fleckchen Grün weit im Süden des Flughafengeländes. Es handle sich bei Gebäude C 183 des Frankfurter Flughafens um eine Art Gefängnis, urteilte das Oberlandesgericht Frankfurt 1996, weshalb Menschen dort maximal 19 Tage untergebracht sein dürften. Im Februar, im sechsten Monat ihres Hierseins, erlitt Nahima H. einen Nervenzusammenbruch. Frankfurt, Flughafen Rhein-Main: Von hier aus sind es nur wenige Stunden zu den Urlaubsparadiesen der Welt, von allen Krisenregionen der Welt ist der Fluchtpunkt Frankfurt in wenigen Stunden erreichbar. 46 Millionen Passagiere steigen hier jährlich ein, aus und um. 1988 erreichten 18'816 Asylbewerber, jeder Fünfte,der nach Deutschland kam, das Land auf dem Luftweg via Frankfurt. Für den damaligen Innenminister Manfred Kanther (CDU) Grund, dieses Tor zu schließen. Im Asylkompromiss von 1993 ist das Flughafenasyl gesondert geregelt, für alle, die in Frankfurt landen, um Asyl bitten und keine gültigen Papiere haben. In 19 Tagen muss entschieden werden, ob dieses Verlangen "offensichtlich unbegründet" ist. Die "Entscheider" des Bundesamtes für die Anerkennung von Flüchtlingen befinden darüber innerhalb von zwei Tagen, für einen Widerspruch hat ein Flüchtling drei Tage Zeit, das Verwaltungsgericht muss innerhalb von 14 Tagen urteilen. In etwas mehr als der Hälfte der Fälle ist das Asylbegehren nicht "offensichtlich unbegründet, sie werden zur Prüfung der Asylgründe ins reguläre Verfahren weitergereicht. So sieht es das Gesetz vor, das vor allem auf Abschreckung zielt. Mit Erfolg: Im vergangenen Jahr wurden von den 1800 BGS-Beamten am Flughafen Frankfurt noch 1419 Flüchtlinge aufgegriffen. "Die Papiere werden von den Schleusern noch im Flugzeug eingesammelt", glaubt Ludwig. Was im Gesetz nicht vorgesehen ist, und wofür Gebäude C 183 auch nicht gedacht war: Fast ein Drittel dieser 1419 Flüchtlinge lebten hier länger als 19 Tage. Die Volksrepublik China beispielsweise interessiert sich überhaupt nicht für die 19-Tage-Frist des Asylverfahrens am Flughafen, die Ausstellung neuer Papiere dauert in Peking mindestens drei Monate. Klaus Ludwig kennt aber auch solche Fälle: "Wir bringen jemanden zur Algerischen Botschaft, um dort einen Pass zu holen. Und dann sagt er plötzlich, er sei Tunesier." Der Iran wiederum weigert sich generell, vom BGS vorgeführten Landsleuten neue Pässe auszustellen. Manche Flüchtlinge sitzen bis zu einem Jahr hier ein. Schon der rot-grüne Koalitionsvertrag sah vor, "die Dauer des Flughafenverfahrens im Licht der Verhältnismäßigkeit" zu überprüfen. Die Lage sei "katastrophal", meinte die Ausländerbeauftragte der Bundesregierung, Marieluise Beck, "menschenunwürdig", nennen es Mitarbeiter des von den Kirchen getragenen Flughafen Sozialdienstes, der die Flüchtlinge im Auftrag des Landes betreut. 66 Plätze stehen im Gebäude C 183 zur Verfügung, bis zu 180 Menschen hielten sich hier schon gleichzeitig auf. 18 versuchte Selbsttötungen hat Clemens Niekrawitz, Leiter der Einrichtung, in den vergangenen drei Jahren gezählt, ein iranischer Student, der an den Demonstrationen im vergangenen Jahr teilgenommen hatte und danach geflohen war, rannte aus Verzweiflung mit dem Kopf voraus gegen eine Glastür. Er hat überlebt. Niekrawitz serviert das Mineralwasser im Plastikbecher, auch in seinem Büro gibt es keine Gläser. Zu gefährlich. Nahima H. war gefährdet, das wusste nicht nur Niekrawitz. In Algerien war sie nach eigenen Angaben von Soldaten mehrfach vergewaltigt worden. Alle Versuche ihres Anwaltes, Nahima H.'s Fall in einem regulären Asylverfahren in Ruhe prüfen zu lassen, scheiterten. Das Ministerium verweigerte die Einzelfallentscheidung, wie sie "aus humanitären Gründen" möglich ist. Nach dem 6. Mai hat Otto Schily sieben Menschen die Einreise erlaubt - üblich sind zehn bis 15 pro Jahr. "Eine solche humanitäre Entscheidungspraxis hätten wir uns schon früher gewünscht", sagt Schäfer. Im Büro des Flughafensozialdienstes steht ein Bildschirm, der ständig anzeigt, welche Flüge gerade starten. Manchmal, sagt Niekrawitz, können Minuten entscheiden, da sei es wichtig, auf dem Laufenden zu sein. Die Flüchtlinge zu versorgen, sie in dem Verfahren zu unterstützen, sie zu betreuen, ihnen im besten christlichen Sinne beizustehen, vor allem viel mit ihnen reden, das seien die Aufgaben der Sozialarbeiter, der "muttersprachlichen Mitarbeiter" und ehrenamtlichen Helfer beim Flughafensozialdienst. Niekrawitz greift in die Hängeregistratur und zieht eine beliebige Akte heraus. Es ist die eines Mannes aus Bangladesch, der vor einigen Tagen hier gestrandet ist. Unter "Sonstiges" steht auf dem Deckblatt: keine Verständigung möglich". Er spricht nur die Sprache seine Heimatlandes. "Bisher gab es für die Menschen hier immer zwei Möglichkeiten", sagt Niekrawitz: "Entweder man darf einreisen, oder man wird abgeschoben. Seit dem 6. Mai gibt es eine dritte Möglichkeit. |