Frankfurter Rundschau , 20.5.2000

KanakAttack: Rebellion der Minderheiten

Die Rede des Schriftstellers Feridun Zaimoglu auf der Weltenbürger-Veranstaltung in Hannover

Er konnte es nicht wissen, nicht einmal ahnen, dass Bundespräsident Johannes Rau seine "Berliner Rede" dem Thema "Gemeinsam leben in Deutschland" widmen würde. Und doch klingt nun der Vortrag des Schriftstellers und Malers Feridun Zaimoglu vor dem Weltenbürger e. V. wie eine Antwort des gebürtigen Türken, der seit 30 Jahren nahezu ununterbrochen in Deutschland lebt. Weltenbürger e. V. ist eine 1997 gegründete Initiative der Volkswagen Kommunikation, die sich den interkulturellen Austausch zwischen Wirtschaft, Politik und Kultur zum Ziel gesetzt hat. Wir dokumentieren Feridun Zaimoglus Vortrag.

Im Juli 1965, nach drei Tagen und drei Nächten im überfüllten Sonderzug auf der Wanderarbeitertrasse, kam meine Mutter eher tot als lebendig mit ihrem damals sieben Monate alten Sohn im Münchner Hauptbahnhof an. Mein Vater löste sich aus der Menschenmenge auf dem Bahnsteig, und kaum, dass sie sich umarmt und verlegene Wiedersehensworte gefunden hatten, wurden sie auch schon in den Luftschutzbunker am Gleis 11 heruntergeführt. Wenige Stunden später saß die zusammengeführte Familie in einem der vielen Transportwaggons auf der Fahrt nach Berlin. Meine Mutter hatte zwar für die lange Reise Vorkehrungen getroffen und fast zwei Dutzend Nuckelflaschen mit Babynahrung abgefüllt. Doch weil sich keine Kühltasche auftreiben ließ, verdarb sie auf halber Strecke. Aus unerfindlichen Gründen war auch ihre Brustmilch versiegt, vielleicht lag es daran, dass sie mit einem offizielleren Empfang gerechnet hatte, vielleicht war auch die defekte Heizung schuld, die kurz nach der Abfahrt aus Istanbul ausfiel.

Die eigentliche Enttäuschung stellte sich bei dem Anblick unserer neuen Behausung im verheißenen Land ein: eine zwölf Quadratmeter große Einzimmerwohnung mit Nasszelle und abgegliederter Küchenzeile, ein schauriges Kabuff, das meine Eltern ein halbes Jahr lang mit einer anderen Gastarbeiterfamilie teilen sollten. Erst viel später, nachdem mein Vater in den Techniken der Ledergerbung unterwiesen und zudem zum Sprachmittler aufgestiegen war, konnten sie den Verschlag gegen das oberste Stockwerk eines Gastarbeiterlagers tauschen.

Es war ein trostloser Einstieg in das, was die ersten Vertragsarbeiter als das "Deutschlandabenteuer" bezeichnen, als die Zeit, die in ihre Herzensfibern und Gelenkkapseln Sporen der Bekümmerung setzte. Auch wenn die meisten nach Deutschland mit dem Gefühl aufbrachen, das große Glück habe nach ihnen gepfiffen, und nach ihrer Ankunft mit dünner Armeleutegrütze vorlieb nehmen mussten - sie alle hielten sich daran, dass Arbeitsamkeit die beste Lotterie sei. Also füllten sie Fabrik- und Montagehallen, standen oder saßen am Fließband, wuschen und putzten Böden blank, bekamen eine Anstellung bei der Müllabfuhr oder verdingten sich als Toilettenpförtner. Sie waren ins Land geholt worden, um ehrbarer Arbeit nachzugehen, und das taten sie denn auch, ohne sich an dem Mangel an Ansehen zu stoßen, der mit der Art ihrer Beschäftigung einherging. So gesehen fiel es meiner Mutter nicht ein, sich die Nase zuzuhalten, wenn mein Vater den recht strengen Geruch der Gerbermittel ausdünstete, mochte er sich noch so oft mit dem Lappen abreiben.

Wanderungen

Es ist besonders in unserer Zeit eine Binsenweisheit, dass kein Mensch mit einer strengen linearen Biographie aufwarten kann. Der Versuch, Einzelne wie Kollektive zugunsten vermeintlicher Erkenntnisgewinne zu vereinheitlichen, muss in einer Art Küchentischethnologie enden. Wer von Zusammenprall und Unverträglichkeit spricht, muss sich früher oder später mit dem Umstand abfinden, dass die Konfliktlinien nicht zwischen den Kulturblöcken, sondern vor allem innerhalb der Kulturkreise verlaufen. Eine Schafherde bleibt zusammen, weil die Hirtenhunde sie zusammentreiben. Menschen haben es an sich, dass sie die angestammten Schollen verlassen und neue Siedlungen aufsuchen.

Meine Mutter beispielsweise ist Tscherkessin und kommt aus dem Kaukasus. Ihre Sippe entkam nur knapp der Deportation nach Sibirien; das geschah in der Zeit, als Stalin mit eisernem Besen fegte und auch das kleine Tscherkessenvölkchen seiner Zwangsumsiedlungspolitik zum Opfer fiel. Nicht vielen gelang die Flucht an die türkische Schwarzmeerküste, und die es doch schafften, wurden über Nacht türkische Staatsbürger. Mein Vater wiederum gehörte der dritten Generation der Balkanflüchtlinge an, die sich nach der Weltkriegsniederlage und dem Zusammenbruch des Osmanischen Reiches in das türkische Kernland aufgemacht hatten. Ich bin im anatolischen Bolu geboren, meine achtzehn Monate jüngere Schwester ist gebürtige Berlinerin. Kann man vor solch immensen Zeitzäsuren und biographischen Brüchen noch von einer einzigen Identität sprechen, die alle Altersklassen in der Geschlechterfolge in Haft nimmt? Irreguläre Lebensläufe aus Zusammenbruchsszenen sind das wahre Gesicht der Einwanderung.

Meine Mutter ist noch immer ein tscherkessisches Frauenwunder, die hohen Jochbögen spannen die Haut der Wangen, die keines Rouges bedürfen, das sich am Nachtkissen abreiben ließe, und von ihren Fesseln schwärmte einst jeder beflaumte Jüngling in der Nachbarschaft. Der Zuchtrute ihres Vaters in die glückvolle Ehe entflohen, verbarg sie sich als frische Ehefrau nicht mehr den Blicken und legte ein buntes Seidentuch aufs Haar, Scheitel und Stirn aber frei, die Tuchzipfel um den Zopf am Rücken gewunden und zum leichten Knoten geschürzt.

Wenn sie im Zinnzuber die weißen Hemden meines Vaters wusch und die Kragenspitzen erst mit Kernseife anstrich und aneinander scheuerte, sprach sie von den wundersamen Umständen meiner Geburt: Ich sei an einem Freitagmorgen um vier Uhr siebenundfünfzig zur Welt gekommen, knapp drei Minuten später sei der Ausruf zum Morgengebet von den Zinnen des Minaretts erschallt. Sie habe sich gefühlt wie ein Wild im Wundbett, und als sie sich aufstützte, um meine Geburt nicht zu verpassen, habe sie das Wunder erblickt: Ich sei nämlich in einer unversehrten Fruchtblase zur Welt gekommen. Angelockt vom Schrei der Hebamme lief das Krankenhauspersonal zusammen, und auch einige herangehumpelte Kranke seien unter dem Pulk gewesen, der sich um das Bett versammelt hatte. Und dann sei die Plünderung losgegangen. Jeder habe sich ein Stück Fruchtblase gerissen, um es als Amulett gegen den Bösen Blick oder die Widerstände des Versuchers zu benutzen. Die sogenannte Juwelenhaut des Neugeborenen ist Gottesgabe, sagte sie, und wer sich damit wappnet, hat leichtes Spiel in kommenden Tagen. Es gibt eine mächtige Liebe, sagte sie, eine Liebe, die das Fassungsvermögen der Hölle sprengt, und wem sie beschieden wird, der braucht kein Balsam gegen Qual und keine Tinktur gegen Querelen.

Der Rest der Geschöpfe aber will sich das Nest warm halten, und wenn die Gelenke spröden und das Augenlicht vertrübt, bedarf es erst recht der Wundermittel wie ein Hautstück der Fruchtblase. Und wie zur Bestärkung kippte sie die Seifenlauge in das Kachelbecken, und das Schmutzwasser strudelte unter lautem Gurgeln in den Ausguss, und was ich noch mitbekam, war das Knacken der Wirbelkörper meiner Mutter und vielleicht noch die roten langen tiefen Rillen an den Fingern. Der ihr anvertrauten Arbeit Genüge tun, nannte sie ihr Tageswerk, egal ob es um die Hausarbeit ging oder um die bezahlte Arbeit im Gastarbeiterlager. So hießen die streng nach Geschlecht getrennten Wohnheime der Fremdländer Mitte bis Ende der Sechziger. An Komfort hatte man bei der Einrichtung nicht gedacht, doch das war auch nicht Sinn der Anwerbung gewesen. Dafür sorgten dann die Türkinnen, Kurdinnen und Jugoslawinnen selbst. Eine venezianische Gondel, die sich erhellte, wenn man sie an die Steckdose anschloss; Postkarten aus der heimischen Meeresküste, Poster des heimatlichen Tourismusministeriums, Kilims und Teppiche, Wasserpfeifen en miniature und vor allem Häkeldecken, Häkelschoner für die Sessellehnen, Häkelkissenbezüge, Häkeltagesdecken und gehäkelte Klorollenhütchen. Zwei Ängste trieben die Frauen im Wohnheim um: zum einen die Angst sich versehentlich auf Häkelnadeln zu setzen. Zum anderen die Angst vor deutschen Polizisten, in deren starre Gesichter man nicht wagte hineinzusehen, aus Furcht, man könnte sich mit der Lähmung anstecken. Sie kamen nicht als Freunde ins Haus, das ahnte man irgendwie, und auch wenn sich keine der Gastarbeiterinnen hatte etwas zuschulden kommen lassen, sie liefen vor Scham rot an, als hätten sie gemeinsam verbrochene Gräuel zu verbergen. Das aber ist ein anderes Kapitel.

Mein Vater seinerseits hielt viel von der osmanischen Erziehung, jenseits der Hausschwelle sollten die Torheiten auf das kindliche Mindestmaß getrimmt werden. Er war ein harter Malocher in der Gerberei, und auch, wenn er sich in den vielen Künsten verstand, Häute und Felle abzuziehen und in chemischen Säften zu baden - das wahre Mannestalent bestand für ihn darin, sich in die Schale des gestandenen Kerls hineinzuputzen. Nur am Sonntag, seinem freien Tag, konnte er sein Spiegelbild genießen, oder wie er sagte, sich guten Gewissens in die Spiegelaugen schauen. Nur der Anzug sei das wahre Kostüm des Mannes. Wer aber keine Ehre im Leib habe, bräuchte sich nicht zu bedecken mit Rock und Überwurf, einem Ehrlosen würde der Zwirn anstehen wie als hätte man einem Asphaltspucker Lumpen angeflickt. Früher verlangte man Genugtuung, wies er mich ein, indem man den Ehrenschänder auf blanke Faust oder auf Degen und Säbel forderte. Man konnte eine ganze Batterie zum Schweigen bringen, man konnte sie dazu bringen, in den Abwässern ihrer Sentimente zu baden. Heute, sagte er, und es war das Jahr neunzehnhundertsiebzig in Deutschland, ist Mut eher in einem Totgeschlagenenhaufen zu finden als in den Herzbeuteln der Männer. Das Bekenntnis zur alten Faustkämpferschule, angereichert durch den Kavaliersbenimm, fiel wohlgemerkt in die Zeit einer Rebellion, an der die Besten ihrer Generation teilnahmen: die Studenten gingen auf die Straße, mit Bannern und Bändern, sie liefen zusammen zu einer Vollstreckungsbrigade, zu einer Sturmfaust, wie ein aus dem Schlaf gerütteltes Hunnenheer, sie lüpften die Talare und schritten erhobenen Hauptes in den Cordon der knüppelnden Ordnungskräfte, und auch wenn am Ende dieser Aufreizung wider den Systemmuff zertretene Saatgefilde und verheerte Fluren übrig blieben - mein Vater war beeindruckt! Und er wurde nicht müde, sich darüber allen mitzuteilen, ob im Vereinslokal oder türkischen Teehaus, ob bei der Arbeit oder im Wohnzimmer. Diese jungen Männer mit den zugewachsenen Backen und der hüftlangen Mähne hatten klopfende Pulse und kippten aus der starren Generationsachse und machten kurzen Prozess mit den schuftigen Tarifen. Im Schatten eines deckenhohen Nippesregals maß mein Vater in schlappenden Operslippern Länge mal Breite des Wohnzimmers, und er verwandelte sich in diesen Momenten von einem geschundenen Gastarbeiter in einen Nachrichtentransporter, der Agitationspoetik ausstrahlt.

Wer in solch einer Klimazone der Unterschichtskräfte aufwächst, hat sich für sein späteres Leben eins vorgenommen: Er will und wird nicht auf halber Strecke verrecken, um Gottes willen nein. Ich spreche nicht nur von einem Aspekt meiner Kindheit, ich spreche von tausend mal tausend Gastarbeiterhaushalten der ersten Stunde, ich spreche von den verschimmelten Arbeiterbaracken, von den Hinterhausbuchten und den Elendkabuffs, in denen wir groß geworden sind, wir - das sind die Zuwandererkinder.

Für Sozialromantik hatten weder unsere Eltern noch wir glutäugigen Kids Zeit und Verwendung, dafür saßen wir zu sehr in der Falle der Armut. Arm waren die Verhältnisse, reich aber der Stamm an Legenden und Kalendersprüchen, katechismustauglichen Psalmen und anatolischen Dialekten. Das Elternhaus gab uns einen äußerst relevanten Sprachschatz ein, und unsere Ankunft in Deutschland prägte ein hellwacher Geist und Verstand. Zum anderen kamen wir uns auf einer kalten aufgesprungenen Scholle vor wie Kulissenschwadroneure, die zwischen romantischer Ausdrucksfähigkeit und Plastikmüll der Metropolen ein neues Garn sponnen. Es war, als riefe sich ein ferner geächteter Gott von der Schädelbasis hoch in Erinnerung. Unsere Bußgebete nach mehr Atmosphäre prallten am deutschen Hartschalenhimmel ab.

BauernArbeiterKinder

Man muss sich das einmal vorstellen: Hunderttausende Anatolier meist bäuerlicher Tradition finden sich über Nacht verwandelt in das Heer des zugewanderten Industrieproletariats. Und ihre Kinder und Kindeskinder, also vom Sinn und der Temperatur her BauernArbeiterKinder, verlassen die Muster der sozial Deklassierten und begnügen sich nicht nur mit dem Gang durch die Institutionen, wie es einst der deutsche bürgerliche Nachwuchs bis zur Perfektion betreiben sollte. Diese jedoch stießen auf ein wirkliches Kulturvakuum und füllten es aus. Heute aber toben soziale Ausscheidungskämpfe, und wer bitte schön wird freimütig bekennen, dass er auf einen nicht Deutschstämmigen gewartet habe?

Und noch einmal, man muss sich das einmal vorstellen: Menschen, die die Situation der eigenen Sprache verlassen, fühlen sich evakuiert, in extremen Fällen sogar entleibt. Und ihre Kinder und Kindeskinder, die Sprosse einer zungenbetäubten ersten Generation, üben sich nicht nur im Deutschen, aber auch in vielen Zungenschlägen. Die sprachliche Manifestation unserer Mobilmachung heißt Kanak Sprak, das ist das babylonische Kauderwelsch einer unbedingt auffälligen, unbedingt angestoßenen Generation, auf die dieses Land wirklich gewartet hat. Darin finden sich Brocken aus dörflichen Dialekten und Anleihen aus dem Hochtürkischen genauso wie das metaphernreiche Slang-Stakkato der Straße und der Großstadtszenen.

Ich will an dieser Stelle keinen sprachwissenschaftlichen Diskurs anstrengen, zumal sich Sprachpracht und Sprachkraft über die Ohrzeugenschaft erschließen lassen. Nur so viel: Kanak Sprak meint Bilderflut, sie bringt Fitness in die Modalitäten, sie stemmt Frische in die Branche. Zu sehr haben sich die Kultursektoren zwischen Mittelstandsnarkose und Witzischkeit eingegraben und sedimentiert. Wenn es denn so sei, dass die wahren Trends und Tendenzen von der Straße kommen, so ist nun eine eingewanderte Unterschicht dabei, ein Feuerwerk an Kulturaufregung zu entfachen.

Es stimmt schon, wenn man Südländerbengels in der Innenstadt gockeln sieht, kommt man auf komische Vergleiche: Die bösen, zügellosen Straßenmamelucken bereiten bestimmt wieder einen Raubzug vor. In gewisser Weise mag das aufgehen: Die nervösen Knarrencaballeros auf hohem Plastikplateau wollen sich jene Kapitaldecke holen, von der sie glauben, dass sie ihnen im Rattenrennen um Jobs und Ausbildungsplätze verwehrt wurde. Sie stehen im Eingang von Einkaufskomplexen, sie tummeln sich an den harten Schranken der Clubs, sie mucken zuweilen auf, weil ihnen scheint, als ob sie aus dem Stand eine Art Mobilisationsmagie entfalten müssten: Diese Galane in Stenzschuhen, diese entfesselten Heidenkinder sind Schnellbrenner, die große Pläne in Angriff nehmen, die davon träumen, der heißgeliebten Frau langstielige scharlachrote Baccara-Rosen vor die Füße zu werfen, und die sich nicht jeden abschätzigen Blick gefallen lassen. Es sind die altmodischen Söhne ihrer altmodischen Väter.

Und auch ich tat mich in jüngeren Jahren hervor. Auf die Frage unseres Deutschlehrers nach unseren Berufswünschen sagte ich arglos, ich wolle mich später doch in der Kunst umsehen, in Schrift und Bild etwas bewerkstelligen. Daraufhin gab er mir den in seinen Augen weisen Rat, ich sollte mich doch bitte schön nicht verheben und Kfz-Mechaniker lernen, das sei Kunstfertigkeit genug für einen Türken. Jeder von uns hat sein persönliches Damaskuserlebnis. Ich wurde über diese Zurechtweisung im Klassenraum auf künftige Einschreitungen sensibilisiert. Ich drehte den Spieß um, die anderen Jungs waren Goldlöckchen und Labello-Benutzer, ihre Schönheit war nicht meine Schönheit, ihre Gefühlsbörse war nicht mein Pathosmarkt. Und also war ich erst recht nicht mehr zu halten, und die so genannte Fremde, von der es heißt, dass wir Türkisch- und Kurdischstämmigen sie ein Leben lang im Herzen tragen wie ein Kleinod, verbrauchte sich sehr schnell.

Wenn die Siegel brechen, wenn man aus den Klausen und Abseiten ausbricht, ist das Fremdheitsgefühl ein doppelter Vorstopper. Entgegen der landläufigen Meinung von Minderheitsforschern und Türkenethnologen vergeuden wir unsere Zeit nicht damit, uns aus der deutschen Öffentlichkeit herauszuhalten. Was ist das überhaupt für ein dummer törichter Vorhalt: In der medialen Inszenierung wird "der Türke" als eine Mischung aus Negerkralle und Wohnsilomucker imaginiert. Er hockt auf seinem Holzschemel, zieht an seiner Gebetskette oder geht vor einem blutrünstigen Wüstengott in die Knie. Nach der Erinnerung von Miniaturmoscheen rechnen sowieso ganze Dörfer mit dem baldigen Sturm der Hunnenhorden aus Kleinasien. Der Argwohn gegenüber den Zuzüglern und ihren Nachkommen speist sich nicht etwa aus den importierten Kulturkreisphänomenen der Einwanderer, aber aus einer alten deutschen Tradition der Fremdskepsis. Wie ist es sonst zu erklären, dass man sich hierzulande gegenüber seinen Türken verhält wie der TÜV zu ausländischen Fabrikaten. Immer wieder wird nämlich die scheinheilige Frage gestellt, ob der Türke "unseren" Sicherheitsstandards entspräche. Auch wenn die Experten - und solche, die sich dafür halten - bei ihrem Lieblingsforschungsprojekt den Stecken anmessen und auf absurde Maße kommen - es zählt schließlich doch nur der Erfahrungswert: Die erfahrene Schmach und der erfahrbare Ausbruch eines jeden von uns schmelzen in eins, und wir nehmen hier ein Quäntlein Ehre und dort einen Zentner Akkordarbeit, um nie wieder in die Baracke zu kriechen, aus der wir kommen.

Rabaukenstolz

Der Name Gottes muss sich zu allen Anfängen brauchen lassen, sagte mein Vater. Und ich dachte: Stimmt, was zum Hahn werden will, rötet bald den Kamm. Meine Vorbilder waren schnell ausgemacht. Ich wollte wie Pélé mit einem Seitfallzieher den Ball in den Giebel zimmern. Hieß es denn nicht, er habe Fußball mit Coladosen und Wollbällen gelernt? Ich wollte wie Muhammad Ali den Kolbenhub-Punch landen und dabei aussehen wie ein beherrschter Kombattant. Diese Götter im Glamourhimmel hatten sich aus der Gosse hochgerackert, doch man sah ihnen den lausigen Zorn nicht an, der Emporkömmlingen anhaftet. Sie brauchten keine großen Worte zu machen, und wenn ihnen der Mund überlief, landeten sie im knallharten Frontslang der Unterschichtsviertel Treffer ins Schwarze.

Anfangs wurden sie verhämt und verlächelt, es gab sogar Experten, die sich für die miesesten Hautfarbenressentiments nicht zu schade waren: "Die Bimbos" sollten lieber wie gehabt ihre Hintern mit Maishülsen abwischen, anstatt Weißen olympische Kategorien streitig zu machen. Pélé und Muhammad Ali standen mit Leib und Seele für Kraft und Herrlichkeit, sie verkörperten für mich und meinesgleichen das Zinsgut der Armen, den Rabaukenstolz, die Armeleutewürde, die sich wenig schert um die expressionslaue Konversation von Gaudi-Gymnasiasten.

Also zog ich los, einen wunderbar mischmaschigen Halbstarken-Radau anzuzetteln, getrieben von der Unrast der Bastarde, gepeitscht vom Schalkdämon im Busen, fein und fesch gemacht, im prunkigen Rezessionshalunkenlook. Meinem Vater gefiel meine Aufmachung weniger gut, er sagte, ich sähe aus wie ein gepuderter Grützbeutel, und er würde an seiner Kummerkette ziehen, um mich gesundzubeten. Meine Mutter hielt den Vergleich mit einem gammligen Apfelbutzen für gerechtfertigt. Meine Schwester hielt dagegen, sie zöge eine angemalte Honigmotte einem öden Stubenhocker vor.

Sie und ich, das war wie schön und rüde in einem Stall. Während ich mich umtat, als säße mein Kopf auf einem Drehzapfen, machte sie in aller Stille und Reifung ihren eigenen Schauplatz auf. Sie hatte sich für einen Bruch ihrer Beziehungen zu den heimatlichen Sprach- und Sittengütern entschieden und betrieb die mähliche Wurzelkappung mit den Mitteln der Bilanzrechnung. Rechnete sich der Aufbegehr, wie hoch war der Nutzeffekt der Revolte anzusetzen? Sie hielt sich an quietschpinken Nagellack, an Mascara, die ihre Wimpern nicht zu Sternchen verklebte; sie kämmte die schwarzen Locken an den Schläfen aus und hellte die Brauenschwünge keck auf. Zorn und Hader waren nicht ihre Elemente, sie wollte, wie sie sagte, nicht wie ein Kind gegen die Stäbe des Laufstalls poltern. Sie stimmte sich auf ihren Grundakkord ein, auf einen Frohgesang, der mit den billigen Melodien und Tuschs der Alltagsödnisse wenig gemein hatte.

Sie und ich, wir waren in der gleichen Wiege gewiegt worden, und sie und ich, wir brachen jeder für sich mit der uns zugewiesenen Lebensfrommheit. Es war und ist eine Zeit nach den Alten, es war und ist eine Zeit, in der die Jungschen, zerrieben von McJobs und Praktika, die Meisterröstung suchen, das brummende Insekt namens Erlösung, die Freiheit von Bettelstand und Barackenbrot.

So wie meine Mutter in den Sonderschlusswochen aufblühte und an den Stoffen und Schürzen in der Grabbelkiste zerrte, so waren auch wir unbedingt aufgelegt, loszupreschen und Front zu machen gegen Kammerton und Katzenjammer.

Heute sind meine Schwester und ich die ungeratenen Kinder, auf die unsere Eltern stolz sind. So hatten sie sich das nicht vorgestellt, die Tochter eine Schauspielerin, der Sohn ein Wort- und Schriftsetzer. Die Jahre der Kämpfe um unsere Zukunft liegen zurück, der Unfriede ist gebannt, und mein Vater, nunmehr ein frohgemuter Rentner in seiner halben Heimat, der Türkei, bringt ein Lebehoch aus immer dann, wenn die Familie versammelt ist und uns allen eine seltsame Kraft in die Glieder fährt. Die Widerstände und Anfechtungen in Almanya haben uns nicht auseinandergerissen, so denkt er, und ich kann seine Gedanken lesen, jeder hat seinen Strauß ausgefochten, jeder hat seine starre Ummantelung, den knochenharten Kokon, gesprengt, jeder hat Fleisch von seinem Fleische und Schweiß von seiner Stirn gegeben.

Einst zogen die Kontraktarbeiter durch güldne Portale ins Wirtschaftswunderland, das Leben schmeckte ihnen wie ungesalz'nes Kraut, und aus Angst, das Altehrwürdige umzustoßen, gingen sie dicht an den Häuserfronten entlang wie klattrige Fohlen. Die Frauen kamen in bunten Gewandungen, weil dies Trachtentuch als Augenschmaus gegen ihre Müdigkeiten half, und manchmal schreckten sie aus dem Alptraum auf und fassten sich an den Ausschnitt ihres vielfarbigen Nachtkittels, wie das Kind, wenn es im dunklen Zimmer erwacht, zum Sorgenpüppchen unterm Kissen greift. Mann wie Frau erlitten sie die Siechtümer von Fremdländern, die neue Herkünfte und neue Behausungen schaffen müssen, wollen sie nicht in Schutzquartieren vergreisen.

Wenn mein Vater am Suchlauf des Radios drehte, um die Frequenz eines türkischsprachigen Senders zu erwischen, nahm er sich eine Auszeit vom Herzensgram. Eine altmodische Volksweise putzte ihm einen Grünspan der Zermürbung vom Angesicht, wie er sagte, und er konnte sich die niedrige Decke wegsingen. Diese Gesänge gingen mir in Fleisch und Blut über, und noch heute stimme ich ein Lied aus vergangener Zeit an, wenn die vier Pfähle meines Zimmers wie Sklavenpfosten anmuten.

Vor den Migräneanfällen meiner Mutter waren wir auf der Hut, der Schmerz konnte sie aus dem Stand anfassen, und dann hieß es, die schweren Samtvorhänge zuzuziehen und den Lichtschein auszusperren und blitzschnell mit der schwarzen Stoffstreifenrolle zur Hand zu sein. Ich habe den bandagierten Kopf meiner Mutter vor Augen, sie schnürte sich regelrecht die obere Gesichtshälfte zu, so als wollte sie einen Stachel auspressen, und bedeckte beide verblendeten Augen zusätzlich mit den Handrücken. Sie nannte sich dann "die verschleierte Frau" oder "die Blinde, die den Spiegel verwehrt". Sie ironisierte ihre Verkümmerung, und diese ihre bewusste Kabarettisierung des Elends half mir später, mich vor ethnischer Hysterie und Selbstgerechtigkeit zu feien. Ich habe gelernt, dass die Sprache im verstörten Fleisch, in ramponierten Körpern ein zeitweiliges Domizil findet, dass das gesprochene wie das geschriebene Wort Heiligtümer aus Geschicken und Schicksalen bauen. Wer sich wie ich den Menschenlandschaften verschrieben hat, der kann nicht in eitlem Minnesang und hohler Hofkunst aufgehen, der muss und will auf das Recht der Alten wie der Jungen pochen. Von der Generation der ersten Stunde bis über die zweite, dritte zur vierten Generation strömen hunderte und aberhunderte Legendenrinnsale zum großen Erzählstrom zusammen. Er vereint Geschichten vom Kampf um Recht und Aufenthalt, von Stolz und Würde, von Esprit und Schickness, von orientalischer Opulenz und großstädtischer Eleganz.

Es gilt, als Chronist Zeugnis davon abzulegen, denn später wird es heißen: Die Geschichte der Zuwanderer, ihrer Kinder und Kindeskinder, ist die Geschichte von herkunftsfremden Deutschen, die trotz Kränkung und Demütigung, trotz Politikerpopulismus und Fremdenhass geblieben sind. Sie sind geblieben, weil es sich lohnte zu bleiben in diesem Land.