Frankfurter Rundschau, 22.5.2000 "Die verschleierte Frau fühlt sich frei" Diskussion über Bedeutung des Kopftuchs / Gleichbehandlung der Religionen gefordert Von Canan Topçu (Frankfurt a. M.) Lagerhallen in Hinterhöfen, umfunktioniert zu Gebetshäusern - lange fand das religiöse Leben der Muslime nahezu unbemerkt statt. Inzwischen haben sich Muslime in Deutschland zu einer starken Minderheit entwickelt. Kopftuch tragende Frauen etwa sind vielerorts häufig zu sehen. Einige Deutsche fühlen sich dadurch bedroht. "Der Islam wird hier nur mit Negativem in Verbindung gesetzt", kritisierte Ferya Banaz von der Union der türkisch-islamischen Kulturvereine in Europa. "Frauen, die Kopftuch tragen, gelten als ungebildet. Erfolgreiche Muslima werden gar nicht wahrgenommen", sagte die Biologiestudentin während der Konferenz zum Thema "Muslime im säkularen Rechtsstaat", die die Hessische Gesellschaft für Demokratie und Ökologie (HGDÖ) am Wochenende in Frankfurt am Main organisiert hatte. Keineswegs bedeckten Frauen ihr Haar, weil sie dazu gezwungen würden, erklärte Banaz. "Das Kopftuch ist ein Teil meiner Identität." Sie wolle sich in dieser Gesellschaft deswegen nicht ständig rechtfertigen müssen. "Ich möchte akzeptiert und nicht wegen meines Kopftuchs diskriminiert werden." Das Bedürfnis nach rigorosen Formen des Islams sei in Europa bei "jungen, gebildeten Frauen" zu beobachten, sagte die französische Ethnologin Nadine Weibel, die über Muslima in Europa forscht. "Für sie ist es unvorstellbar, sich den islamischen Sozialordnungen nicht zu unterwerfen." Dazu gehöre auch die Kleiderordnung (Hijab), das Verbergen des Körpers bis auf das Oval des Gesichts. Für die moderne praktizierende Muslima sei der Hijab ein Mittel, sich vom Islam der Eltern und deren patriarchalischen Vorstellungen sowie gleichzeitig sich vom westlichen System zu distanzieren. Die verschleierte Frau fühle sich frei, da sie nicht als Sexualobjekt betrachtet werde. "So ist ihr die Möglichkeit gegeben, die männliche Welt zu erobern." Die Muslima stelle sich gegen die Unterdrückung und Unterwerfung, wolle sich aktiv in der Gesellschaft engagieren. Auch wenn es in westlichen Ländern als Widerspruch gelte, sei der Hijab ein Symbol für das Erwachen einer modernen, islamzentrierten weiblichen Identität. Muslime haben ein Recht auf die Mitgestaltung der Gesellschaft - darüber waren sich die Teilnehmer der Konferenz einig, die sich mit der Frage nach dauerhaftem friedlichen Zusammenleben beschäftigten. "Sozialpsychologisch ist die Situation klar: Die Konflikte entstehen auf Grund eigener Probleme", sagte Birgit Rommelspacher, Psychologin und Professorin in Berlin. In einer Gesellschaft, in der der persönliche Bezug zur Religiosität tabuisiert sei, reagierten Menschen auf Muslime aggressiv, die ihren Glauben praktizierten und das Kopftuch trügen. Verantwortlich für das Unbehagen gegenüber Muslimen seien auch Medienberichte, betonte Ibrahim Cavdar vom Zentralrat der Muslime in Deutschland. Die Wahrnehmung werde durch terroristische Gruppen bestärkt, die im Namen des Islams Kriege führen. "In einer multireligiösen Gesellschaft wie Deutschland sind Reformen nötig", forderte der Rechts- und Religionswissenschaftler Heiner Bielefeldt. Die Religionsfreiheit sei der Dreh- und Angelpunkt des säkularen Rechtsstaats. Der Staat dürfe sich nicht nur mit einer einzigen Religionsgemeinschaft identifizieren, sondern müsse auch muslimische Minderheiten mit den christlichen Kirchen gleichstellen - dazu gehöre neben dem Bau von Moscheen unter anderem auch der Religionsunterricht.
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