taz Berlin 23.5.2000 "Zweisprachigkeit ist Alltag" Der bildungspolitische Sprecher der Bündnisgrünen, Özcan Mutlu, hat sich das kalifornische Schulsystem angeschaut. In Sachen Eigenverantwortung und Demokratie kann Berlin davon viel lernen, meint er taz: Statistiken zeigen, dass in zehn Jahren die spanischsprachige Bevölkerung in Kalifornien die Mehrheit bilden wird. Mancherorts ist das bereits Realität. Wie reagieren die Schulen darauf? Özcan Mutlu: Spanisch hat für die weiße Bevölkerung in Kalifornien eine ganz andere Bedeutung als Türkisch für die Deutschen in Berlin. Es gibt viele Stadtteile, die spanisch dominiert sind. Für die Weißen ist es oft sehr wichtig, dass sie und ihre Kinder spanisch sprechen. Denn Firmen stellen Menschen teilweise nicht ein, wenn sie kein Spanisch können. Die Philosophie vieler Betriebe ist, dass die MitarbeiterInnen beide Sprachen können müssen. Deshalb schicken viele weiße Eltern ihre Kinder schon frühzeitig in Spanisch-Unterricht, damit sie im ökonomischen Wettbewerb mithalten können. Das heißt, dass an vielen Schulen zweisprachige Erziehung Alltag ist. Wie sieht die zweisprachige Erziehung genau aus? Sie haben zum Beispiel ein ähnliches Modell wie die Europaschulen in Berlin. Doch im Gegensatz zu Berlin, wo die Kinder während der gesamten Schulzeit zur Hälfte in Deutsch und zur Hälfte in Türkisch unterricht werden, ist das Verhältnis in der ersten Klasse in Kalifornien 90 zu 10. In den fortlaufenden Schuljahren nimmt der Spanischunterricht immer mehr ab, bis beide Sprachen gleichberechtigt unterrichtet werden. Es gibt allerdings viele verschiedene Modelle, die sich von Schulbezirk zu Schulbezirk unterscheiden. Können diese Schulmodelle auf Berlin übertragen werden? In Berlin haben die Deutschen weniger Interesse an Zweisprachigkeit. Türkisch zu sprechen hat nicht dieses Prestige wie in Kalifornien das Spanische. Es leben auch wesentlich weniger Türken in Berlin als Mexikaner in Kalifornien. Eine Ausnahme ist vielleicht Kreuzberg, aber dort brauchen die Deutschen die türkische Sprache nicht für einen ökonomischen Erfolg. Deshalb ist diese sehr breit angelegte doppelsprachige Erziehung aus den USA nicht übertragbar. Das kalifornische Schulsystem gilt für die USA als vorbildlich. Es wird viel Geld investiert. Was ist sonst noch bemerkenswert? In vielen Kindergärten gibt es Computerräume, und praktisch jede Grundschulklasse hat mindestens einen Internetzugang. Davon sind wir weit entfernt. Es wird sehr darauf geachtet, dass nicht zu viele SchülerInnen eine Klasse besuchen. Die Klassenfrequenz an den Grundschulen ist per Gesetz auf 20 festgelegt. Wenn es mehr als 20 SchülerInnen sind, wird die Schule mit Budgetkürzungen bestraft. Das Berliner Schulsystem gilt als sehr unflexibel, weil es zentralistisch verwaltet wird. Sind die kalifornischen Schulen auch deshalb so modern, weil es mehr Entscheidungsspielräume gibt? Allein in Kalifornien gibt es 1.100 Schuldisktrikte. Jedes Disktrikt hat seinen eigenen Haushalt. Damit können sie mehr oder minder machen, was sie wollen. Ein Beraterteam mit gewählten Personen - Eltern und Lehrern, manchmal auch Gewerbetreibenden und andere Einzelpersonen - entscheidet zusammen mit den Schulen über das Schulprofil und wozu bestimmte Gelder verwendet werden. Die haben auch die Hoheit über die Einstellungen. Wenn es dort Lehrerknappheit in bestimmten Fächern gibt, dann können sie sie selbstständig von ihren Geldern einstellen. Es läuft dort alles sehr demokratisch ab. Bei uns wird leider alles vom Landesschulamt oktroyiert. Unsere Schulen haben immer noch zu wenig Eigenverantwortung und Autonomie. INTERVIEW: JULIA NAUMANN
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