Süddeutsche Zeitung, 24.5.2000 "Öcalan droht zu ersticken" PKK-Führer ist angeblich im Gefängnis schwer erkrankt Für den hohen Gast aus Ankara musste es eigentlich ein peinlicher Zwischenfall sein: Bei einer Rede im anatolischen Hinterland wurde Devlet Bahceli, stellvertretender Ministerpräsident und Chef der rechtskonservativen "Nationalistischen Bewegungspartei" (MHP), am Wochenende an ein Wahlversprechen erinnert: "Wann hängt ihr endlich den Terrorboss und Kindermörder Öcalan?" In der Tat hatte die MHP ihren spektakulären Wahlerfolg vom vergangenen Jahr zum großen Teil ihrer Zusicherung zu verdanken, den zum Tode verurteilten Vorsitzenden der "Arbeiterpartei Kurdistans" (PKK) so schnell wie möglich dem Henker zu überantworten. Doch mittlerweile ist fast ein Jahr seit dem Urteil gegen Abdullah Öcalan vergangen, aber vom Galgen spricht niemand mehr. Vielleicht bleibt Öcalan der Gang zum Schafott ganz erspart - weil er unter Umständen schon vorher aus anderen Gründen stirbt. Dies jedenfalls befürchtet Osman Öcalan, der jüngere Bruder des PKK-Chefs. Dem PKK-Fernsehsender "Medya TV" vertraute er an, dass sich der Gesundheitszustand seines auf der Gefängnisinsel Imrali in Einzelhaft gehaltenen Bruders in den vergangenen zwei Monaten rapide verschlechtert habe. "Er hat Schwierigkeiten beim Atmen, im Schlaf erstickt er fast", erklärte Osman Öcalan, der dem Präsidialrat der PKK angehört. "Er hat stechende Schmerzen in den Augen, er hat seinen Geruchs- und Geschmackssinn verloren, und seine Zunge und sein Gaumen brennen." Auf Grund einer verschleppten Nebenhöhlenentzündung leide er zudem ständig unter schweren Kopfschmerzen. Nach Osman Öcalans Worten hat man sich entschlossen, die Krankheit des PKK-Führers bekannt zu machen, weil er in der Vergangenheit nicht ausreichend behandelt worden sei. Der Jüngere äußerte auch den Verdacht, dass das Leiden Öcalans keine natürlichen Gründe haben könne: "Die Türkei hängt ihn nicht, aber sie will ihn auf andere Weise hinrichten", sagte er. "Dies werden wir nicht zulassen, unser Volk darf nicht schweigen. Die von Abdullah Öcalan ausgerufene einseitige Einstellung der Kämpfe dürfte sicherlich ein Ende finden, wenn der Kurdenführer unter ungeklärten Umständen stürbe. Auch in Deutschland würde es in diesem Fall wohl erneut zu Protesten kommen. Unter den Kurden im Südosten der Türkei ist die einsame Entscheidung Öcalans für den Frieden ohnehin mit zunehmender Bitterkeit und verstecktem Ingrimm registriert worden. Zumal von einem von Ankara mehrmals angekündigten "master plan" zum wirtschaftlichen Aufbau der vernachlässigten Region nach wie vor nichts zu sehen ist. Der türkische Nationalistenführer Bahceli fing sich übrigens sehr rasch, als er in der Provinz an sein Wahlversprechen von der Hinrichtung des PKK-Chefs erinnert wurde. Mit zwei Worten beruhigte er die Gemüter: "Habt Geduld". Wolfgang Koydl
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