Tagesspiegel, 26.5.2000 Historische Funde in Anatolien Antike Mosaiken verschwinden im Stauwasser - Archäologen fordern Unterbrechung der Bauarbeiten Thomas Seibert Das Mosaik ist erstaunlich gut erhalten: Auf einem von zwei Pferden gezogenen Streitwagen pflügt Meeresgott Poseidon mit seinem Dreizack durch die See. Doch der Archäologe Mehmet Önal und seine mehr als 30 Kollegen, die mit den Grabungen in den Ruinen der 2300 Jahre alten Stadt Zeugma im Südosten der Türkei beschäftigt sind, haben keine Zeit, um ihren Fund zu bestaunen. Denn das aufgestaute Wasser des Euphrat im nahen Birecik-Damm steigt unaufhörlich. Wenn die Arbeiten im bisherigen Tempo fortgesetzt werden, wird Ende Mai ein Drittel Zeugmas unter dem Wasserspiegel verschwinden. Önal und seine Kollegen fordern eine Unterbrechung des Dammprojekts für einige Monate, um ihre Ausgrabungen abzuschließen und die wichtigsten Funde zu retten. Doch ihre Chancen stehen schlecht. Der Birecik-Staudamm gehört zum riesigen "Südost-Anatolien-Projekt". Unter der türkischen Abkürzung GAP bekannt geworden, sieht das in den sechziger Jahren begonnene Milliarden-Projekt den Bau von 22 Dämmen und 19 Kraftwerken an Euphrat, Tigris und ihren Nebenflüssen vor. Damit sollen Landwirtschaft und Industrie gestärkt werden; die Planer versprechen sich die Entstehung von mehr als drei Millionen Arbeitsplätzen. Ankara hofft zudem, dass der erwartete Wohlstand dem kurdischen Separatismus in den verarmten Landesteilen die Grundlage entzieht. Doch das Großprojekt hat seine Schattenseiten, wie die türkische Regierung selbst zugibt. Tourismusminister Erkan Mumcu sprach bei einem Besuch der Ausgrabungen von Zeugma von einem Dilemma für Ankara: Einerseits will die Türkei ihre Energieversorgung sichern, andererseits möchte sie auch ihr reiches kulturelles Erbe erhalten. "Es ist schwer, da die richtige Balance zu finden", sagt der Minister. Einmalige Zeugnisse aus römischer Zeit wie das sechs mal acht Meter große Poseidon-Mosaik oder die ebenfalls in Zeugma gefundene, anderthalb Meter große und vollständige erhaltene Staue des Kriegsgottes Mars bilden ein gewichtiges Argument für einen vorübergehenden Baustopp. "Gebt uns einige Monate Zeit, dann wird die Türkei das größte Mosaik-Museum der Welt besitzen", appellieren die Archäologen an die Behörden. Doch bisher gibt es keine Anzeichen dafür, dass die Arbeiter am Staudamm tatsächlich eine Pause einlegen werden. Geht es in Zeugma vor allem um das antike Erbe, vermischt sich rund 300 Kilometer weiter östlich in der Stadt Hasankeyf an der alten Seidenstraße der Streit um die drohende Zerstörung eines Kulturzeugnisses mit dem Problem der Umsiedlung von mehreren tausend Menschen und dem Kurdenkonflikt. Nach Angaben kurdischer Gruppen müssten bei einer Vollendung des Ilisu-Staudamms in der Nähe von Hasankeyf rund 16 000 Menschen die Gegend verlassen; dabei hätten keine Konsultationen mit den Betroffenen stattgefunden, kritisiert die deutsche Organisation "Weltwirtschaft, Ökologie und Entwicklung" (Weed). Das "Kurdische Menschenrechtsprojekt" mit Sitz in London nennt das Ilisu-Projekt einen neuen Versuch Ankaras, "die kurdische Identität zu zerstören". Kritiker des Staudamm-Projekts in Westeuropa fordern von der britischen, deutschen und anderen Regierungen, sie sollten Unternehmen aus ihren Ländern Exportbürgschaften für eine Beteiligung am Ilisu-Damm verweigern. |