Die Presse (A), 27.5.2000 Türkei: Das Militär ebnet den Weg nach Europa Ein halbes Jahr nach dem EU-Gipfel von Helsinki beginnt in der Türkei der Aufbruch nach Europa. Das Militär spielt dabei eine tragende Rolle. Von unserem Korrespondenten JAN KEETMAN ISTANBUL. Ein halbes Jahr nach dem EU-Gipfel von Helsinki, auf dem der Türkei die Möglichkeit einer Aufnahme in die EU zugesichert wurde, beginnt in der türkischen Politik allmählich der Aufbruch nach Europa. Vorgeprescht ist zuletzt ausgerechnet eine Institution, deren politischer Einfluß nach europäischem Maßstab eigentlich abgeschafft gehört: das Militär. In verschiedenen Zeitungen wurden Artikel lanciert, die ankündigten, die Generäle drängten auf die Abschaffung der Todesstrafe und eine Veränderung des nationalen Sicherheitsrates. Dieses unter dem Vorsitz des Staatspräsidenten aus Vertretern des Kabinetts und Militärs zusammengesetzte Gremium übt entscheidenden Einfluß auf die Gestaltung der türkischen Politik aus. Nun schlagen die Militärs selbst vor, durch Aufnahme von weiteren Zivilisten in den nationalen Sicherheitsrat ihre eigene Rolle in dem Gremium zu beschränken. Hinter dem Vorstoß der Militärs mag außer dem Wunsch, den Weg der Türkei Richtung EU zu glätten, auch die Hoffnung stecken, die Türkei könne vielleicht doch noch in ein europäisches Verteidigungskonzept mit einbezogen werden. Ein weiterer Schritt in Richtung Europa ist der Amtsantritt von Ahmet Necdet Sezer als Staatspräsident. Der bisherige Präsident des Verfassungsgerichtes gilt als Verfechter von Demokratie und Rechtsstaatlichkeit. Sezer möchte die Unabhängigkeit der Justiz stärken und alle Teile des Staates, inklusive des Militärs, unter richterliche Kontrolle stellen. Außerdem sollen die Meinungsfreiheit einschränkende Gesetze abgeschafft und sogar Unterricht in Kurdisch erlaubt werden. Auch auf ökonomischem Gebiet erfolgt eine Annäherung an Europa. Das vom Internationalen Währungsfonds (IWF) mit vier Milliarden Dollar (4,4 Milliarden Euro) unterstützte und von Regierung und Zentralbank konsequent umgesetzte Antiinflationsprogramm beginnt zu greifen. Zwar lag die Inflation in den ersten vier Monaten noch immer bei 50 Prozent, im Vergleich zum Vorjahr damit aber immerhin um 20 Prozent niedriger. Nach Schätzungen könnte sie am Jahresende bei den geplanten 25 Prozent liegen. Probleme macht aber noch die Aussöhnung mit Griechenland. Zwar werden Fortschritte vor allem auf der psychologischen Ebene gemacht. In der Zypernfrage bewegt sich aber bisher keine von beiden Seiten. Auch Europa macht sich noch keine Vorstellung davon, wie es den Brocken Türkei ökonomisch und politisch verdauen kann. Selbst wenn die türkische Wirtschaft weit über dem europäischen Durchschnitt wächst, wird es noch Jahrzehnte dauern, bis sie sich dieser annähert. Die Probleme liegen aber nicht nur auf ökonomischem Gebiet. Offen ist etwa die Frage ob Paris sich damit abfinden wird, daß nicht mehr die Franzosen, sondern die Türken die zweitgrößte Nation in der EU sein werden und entsprechend politischen Einfluß verlangen können?
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