Die Welt, 27.5.2000 Kritik an US-Raketenabwehrsystem Scharfe Vorwürfe von Experten könnten "Star Wars"-Programm zu Fall bringen Von Uwe Schmitt Washington - Das von den Vereinigten Staaten geplante Nationale Raketenabwehrsystem (NMD) ist technisch funktionsunfähig und zurzeit nicht mehr als eine Schimäre des Pentagon, das mit gefälschten wissenschaftlichen Daten und geschönten Testbedingungen Präsident Clinton in die Irre führt, den ABM-Vertrag unterläuft, die atlantische Allianz belastet und mit einem neuen "Star Wars"-Programm ein Wettrüsten heraufbeschwört. Diese Vorwürfe hat am Donnerstag eine Aktionsgruppe von amerikanischen Politikern, Wehrexperten und Wissenschaftlern in Washington erhoben. Die in dieser Schärfe beispiellose Kritik, erhoben nicht zufällig wenige Tage vor dem Treffen Bill Clintons mit Wladimir Putin in Moskau, bei dem eine Revision des ABM-Abkommens von 1972 zur Sprache kommen soll, deckt sich weitgehend mit Einwänden der europäischen Verbündeten und Protesten Russlands und Chinas. Die Anschuldigungen müssten, falls sie unwiderlegbar zu beweisen sind, das in drei Stufen geplante Programm einer "National Missile Defense", über das Bill Clinton im Sommer entscheiden will, zu Fall bringen. Von den beiden Tests glückte nur einer halbwegs, unter optimalen Bedingungen; ein dritter Versuch, für Ende Juni angesetzt, wurde verschoben. Das NMD-System würde nach Berechnungen des unabhängigen Haushaltsbüros des amerikanischen Kongresses in der ersten Stufe - 100 in Alaska aufgestellte Raketen - fast 30 Milliarden Dollar verschlingen. Nach der Installation von 250 Abfangraketen und einem Satelliten-Infrarotfrühwarnsystem bis 2015 würden sich die Kosten verdoppeln. In der Washingtoner Pressekonferenz erläuterte Theodor Postol, einer der führenden US-Raketenspezialisten, dass die radargestützten Abfangraketen nicht zwischen anfliegenden Sprengköpfen und Köderballons (so genannten "decoys") unterscheiden und nicht einmal die Entfernung exakt messen könnten. Theodor Postol, Professor für National Security Studies am Massachusetts Institut of Technology und wissenschaftlicher Berater der US-Marine für Raketentechnologie, beschuldige das Pentagon, eine Evaluierung NMD durch hervorragende, von der Rüstungsindustrie unabhängige Fachleute zu verhindern. Ein am 11. Mai an das Weiße Haus gerichteter Brief Postols, in dem er die Fälschungen des Pentagon nachweist, wurde "wegen schweren, direkten und unmittelbaren Schadens für die nationale Sicherheit" als geheim eingestuft; er wartet bis heute auf eine Reaktion. "Wie kann ein Präsident, der eine so weit reichende Entscheidung zu treffen hat, die Ignoranz wählen?", fragte der Ballistikexperte, dessen Sachverstand schon einmal, während des Golfkrieges, im Pentagon unangenehm auffiel, als er die Legende diskreditierte, "Patriot"-Raketen hätten irakische "Scuds" akkurat abgefangen. In einem einstündigen Vortrag versuchte Postol anhand von Diagrammen und Computersimulationen vor einem Laienpublikum zu belegen, wie die zuständige Ballistic Missile Defense Organisation im Pentagon Testergebnisse betrügerisch manipulierte und für das Experiment optimale Bedingungen schuf. So sei die Anzahl von Köderballons von zehn zunächst auf vier, dann auf zwei reduziert worden; zudem konnten die von dem Unternehmen Raytheon hergestellten Sensoren in den etwa 60 Kilo schweren Sprengköpfen der Abfangraketen die Ziele überhaupt nur erkennen, wenn sie von der Sonne erhellt wurden. Ein Angreifer könnte, so Postol, das NMD leicht überwinden, indem er die Ortung mit Ködern überschwemmte. Andere Sprecher wiesen auf die geostrategischen Folgen des Programms hin, das, unabhängig von seiner technischen Funktionstüchtigkeit, in seiner ersten Stufe das gesamte Arsenal der 15 bis 25 chinesischen Interkontinentalraketen neutralisieren und unweigerlich eine Nachrüstung auslösen würde. Zugleich verhindert es eine Reduzierung der russischen Nuklearwaffen. Stephen Schwartz, Herausgeber des "Bulletin of Atomic Scientists", berichtete, bei Abrüstungsverhandlungen im Januar in Genf hätte die amerikanische Delegation, die für NMD warb, zu verstehen gegeben, dass man keine Reduzierung unter 1500 Raketen wünsche und gegen den Alarmzustand des auf die USA gerichteten Arsenals nichts einzuwenden habe. Die Bedrohung durch den maroden, störanfälligen Zustand der russischen Atomraketen werde durch das NMD-System, das Abrüstung verhindere, vervielfacht. Pentagon-Dokumente machen kein Geheimnis daraus, dass die Vereinigten Staaten den "Weltraum kontrollieren und dominieren" wollen, so ein Sprecher, und dabei auf offensive Laserwaffen setzen. NMD könne demnach ein "trojanisches Pferd" sein, mit dem der Krieg der Sterne eingeleitet wird. Die nie konsultierten Europäer glichen unterdessen "einer Horde Hilfssheriffs, die es mit der Angst bekommen vor der Paranoia ihres schwer bewaffneten Chefs".
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