Kölner Stadtanzeiger, 29.5.2000

Hintergrund

In Teheran beginnt eine liberalere Ära

Die Wahlmanipulationen durch die Geistlichen sind gescheitert

Nach harten Schlägen gegen ihre Anhänger und die liberale Presse (18 Zeitungen wurden in den vergangenen Wochen geschlossen) feierten die Reformer um Irans Präsident Chatami am Samstag in Teheran einen großen Triumph. Das im Februar gewählte Parlament trat zu seiner ersten Sitzung zusammen.

Erstmals seit der islamischen Revolution 1979 wird es von einer neuen Generation politischer Modernisten dominiert. Die konservative islamische Strömung ist auf eine winzige Minderheit zusammengeschrumpft. Nachdem Ex-Präsident Rafsandschani - von den Konservativen in fataler Fehleinschätzung der politischen Stimmung, zu ihrem Zugpferd erkoren - am Freitag von seinem Parlamentssitz zurückgetreten ist, steht den Anhängern Chatamis auch der Weg zum Amt des einflussreichen Parlamentssprechers offen.

Die Konservativen haben nun im Parlament nicht einmal einen klaren Führer. Keine ihrer politischen Persönlichkeiten eroberte einen Sitz.

Rund 70 Prozent der 249 Abgeordneten (41 Mandate sind neu zu bestellen) gehören der Präsident Chatami unterstützenden Koalition an oder stehen ihr nahe. Es war ein langer, harter Kampf gewesen, der den Reformern schließlich die Eroberung der Legislative ermöglichte. Der von Erzkonservativen dominierte "Wächterrat", dem die Bestätigung der Kandidaten und der Wahlergebnisse obliegt, hatte alles daran gesetzt, um die überwältigende Mehrheit der Chatami-Fraktion zu verhindern und Rafsandschani einen Sitz zu sichern. Doch der "geistliche Führer", Chamenei, setzte schließlich der Wahlmanipulation ein Ende.

"Dieses Parlament", mahnte Chatami die Abgeordneten, "trägt eine schwere Verantwortung und muss eine fundamentale Rolle zur Stabilisierung des Systems übernehmen". Große Turbulenzen stehen bevor. Die Reformer bilden keineswegs einen einheitlichen Block, vertreten stark unterschiedliche Meinungen in vielen Fragen.

Viele Abgeordneten wollen der Aufhebung zahlreicher unpopulärer Gesetze, von denen einige vom ausscheidenden Parlament noch rasch verabschiedet worden waren, allerhöchste Priorität einräumen. Dazu zählt an vorderster Stelle das Pressegesetz, das die Meinungsfreiheit drastisch einschränkt.

Auch fordern sie die Wiederbelebung von Klauseln der Verfassung, die die herrschenden Konservativen über viele Jahre nicht berücksichtigt hatten, darunter jene über die Zulassung politischer Parteien und Gewerkschaften.

Die künftige Rolle Rafsandschanis gibt in Reformkreisen Anlass zur Beunruhigung. Die Konservativen hatten den Ex-Präsidenten zur Kandidatur bei den Wahlen gedrängt, damit er den Sieg der Reformer verhindere. Doch nach einer intensiven Medienkampagne, in der Rafsandschani offen mit einer Mordserie an Intellektuellen 1998 in Zusammenhang gebracht worden war, erlitt er bei den Wahlen eine demütigende Schlappe.

Nach der ersten Stimmenauszählung landete er für die 30 Teheraner Sitze an letzter Stelle. In Reformkreisen herrscht kein Zweifel, dass der "Wächterrat" durch die Annullierung von mehr als 700 000 Teheraner Stimmen Rafsandschani ein Mandat sicherte. Um sich dem drohenden offenen Vorwurf eklatanter Wahlfälschung zu entziehen, verzichtete der Ex-Präsident schließlich auf seinen Sitz.

Rafsandschani aber besitzt immer noch große Macht, insbesondere als Vorsitzender des "Schlichtungsrates". Auch kontrolliert er ein weit geflochtenes politischer Netzwerk. So manche Beobachter in Teheran meinen, außerhalb des Parlaments - durch die schwere persönliche Demütigung möglicherweise auch von Rachelust getrieben - bedeute Rafsandschani für die Reformer eine weit größere Gefahr als innerhalb. "Mit seinem Rückzug", meint ein Teheraner Intellektueller, "hat er ihnen den Krieg erklärt".