Neue Zürcher Zeitung, 30. Mai 2000 Tiefe Identitätskrise der türkischen Islamisten Suche nach einer islamistisch-demokratischen Partei Die islamistische Bewegung der Türkei ist heute gespaltener denn je. Während den Konservativen nach wie vor eine soziale Ordnung auf der Basis einer strikten Auslegung des Korans vorschwebt, versprechen die Reformer, als Schrittmacher in der muslimischen Welt den Weg für eine islamistisch-demokratische Partei zu ebnen. it. Istanbul, Mitte Mai Steht die Tugendpartei (Fazilet), die im türkischen Parlament den politischen Islam vertritt, vor einer Spaltung? Solche Ängste sind in der islamistischen Bewegung der Türkei aufgekommen, seitdem der erste Parteitag von Fazilet am 14. Mai die Kluft zwischen den sogenannten Konservativen und den Reformern vertiefte. Die Konservativen wurden im Sportstadion von Karsiyaka, einem Stadtviertel von Ankara, in dem der Parteitag stattfand, vom 69-jährigen Recai Kutan angeführt. In Wirklichkeit steht aber weiterhin der Mentor der islamistischen Bewegung der Türkei, Necmettin Erbakan, an ihrer Spitze. Erbakan, mit einem Verbot jeglicher politischen Tätigkeit bis 2002 belegt, konnte im Saal physisch nicht anwesend sein. Er dominierte dennoch das Geschehen, ob mit seinen überall angebrachten, übergrossen Bildern oder mit einer aufgezeichneten, langen Rede. Schon Tage vor dem Kongress hatte Erbakan klargemacht, dass für das Amt des Parteiführers einzig Kutan kandidieren dürfe. Rebellion in den eigenen Reihen Gegen diesen Wunsch des charismatischen Erbakan lehnte sich der 46-jährige Führer der Reformer, Abdullah Gül, auf. Er kündigte seine Kandidatur an und setzte damit - so die einstimmige Meinung der Presse - eine bahnbrechende Entwicklung für die Bewegung des politischen Islam in Gange. Es gehört zur politischen Kultur des Landes, dass die Beschlüsse der Führung nicht in Frage gestellt werden. Für die Islamisten gilt der absolute Gehorsam gar als ungeschriebenes Gesetz. Kutan wurde zwar zum Vorsitzenden der Partei gewählt; dass aber mehr als vierzig Prozent der Delegierten für den Rebellen Gül votierten, hat Fazilet in den Fundamenten erschüttert. «Nichts wird mehr so sein wie früher», kommentierte der Experte für die türkische islamistische Bewegung Rusen Cakir. Die erste Partei, die sich auf den Islam zu berufen wagte, nachdem der Staatsgründer, Kemal Atatürk, die Religion der strikten Kontrolle des Staates unterstellt hatte, war die von Erbakan 1969 gegründete Partei der Nationalen Ordnung. (MNP). Sie fand ihr Wählerpotential hauptsächlich in den ländlichen Gebieten Zentralanatoliens, wo die Bevölkerung fern den zivilisatorischen Projekten Atatürks arm und tief religiös blieb. Die MNP wurde nach der Militärintervention 1971 verboten, ein Jahr später aber erneut gegründet, diesmal unter dem Namen Nationale Heilspartei. Ihr Ende kam, als nach dem Militärputsch von 1980 erneut das Parlament aufgelöst und sämtliche Parteien verboten wurden. Anfänglich von der Militärführung unterstützt, die im Islam eine Waffe gegen den Kommunismus sah, wurde der politische Islam in der Türkei in den achtziger Jahren zu einer Massenbewegung. Eine Herausforderung für den Staat In den neunziger Jahren war der politische Islam bereits so stark, dass er die etablierte Staatsgewalt ernsthaft herausfordern konnte. Die Bewegung um den religiösen Führer Fethullah Gülen hatte sich zum Ziel gesetzt, ihren Einfluss über das Erziehungswesen hinaus auszudehnen. Sie gründete renommierte Schulen in der Türkei und in den jungen Republiken Zentralasiens, auf dem Balkan und in den Ländern des Kaukasus. Statt als eigenständige politische Kraft aufzutreten, schleuste die Bewegung ihre Mitglieder in die Chefetagen der Parteien und in staatliche Schlüsselstellungen. Ihr Modell war ein betont türkisch- nationalistischer und amerikafreundlicher Islam. Aus Angst vor Repression sind die Anhänger der Bewegung in den letzten Jahren untergetaucht; ihr Führer lebt seit Monaten in den USA. Andere Anhänger des politischen Islam gruppierten sich um Erbakan. Dieser stützte sich auf die traditionellen Werte des Islam im Nahen Osten und war teilweise feindlich gegenüber dem Westen eingestellt, der als kulturelle Kolonialmacht abgelehnt wurde. Ende der achtziger Jahre vereinigte der unter Islamisten huldvoll «Hodscha» (Lehrer) genannte Erbakan mit seinem vagen Versprechen, eine «gerechte Ordnung» aufzubauen, unter dem Dach der Wohlfahrtspartei (Refah) städtische Kleinbürger, die genug hatten von den traditionellen, in zahlreiche Korruptionsskandale verwickelten Parteien, sowie Bewohner der Armenviertel am Rande der Grossstädte, die auf politische und soziale Gerechtigkeit hofften. In den Reihen von Refah fanden sich auch Kurden, die, vom brutalen Krieg in Südostanatolien erschüttert, ihre Identität im Islam suchten. Erbakan konnte 1995 die Wahlen gewinnen und für ein Jahr die Regierungsgeschäfte führen, bevor die Generäle ihn 1997 zum Rücktritt gezwungen haben. Wenige Monate später wurde seine Refah vom Verfassungsgericht verboten. In die Fussstapfen der verbotenen Refah trat nun Fazilet, die inzwischen ebenfalls von der Schliessung bedroht ist. Für den Oberstaatsanwalt des Staatssicherheitsgerichts in Ankara, Vural Savas, und einen Grossteil der Armeeführung ist Fazilet eine Reinkarnation von Refah und infolgedessen eine grosse Gefahr für den Staat. Islamisten seien - so der Staatsanwalt - «Vampire, die sich vom Blut der Naiven ernähren». Unerfüllte Träume Der islamistische Intellektuelle Ali Bulac führt die enorme Schwächung des politischen Islam zuallererst auf aussenpolitische Faktoren zurück. Der Traum der muslimischen Welt, wonach ein islamistisches Regime Lösungen für die gravierenden Probleme der verarmten Massen anbieten könne, sei zwanzig Jahre nach der Errichtung der Islamischen Republik in Iran endgültig verflogen. Das Ideal einer islamistischen, gerechten sozialen Ordnung könne breitere Bevölkerungsschichten weltweit nicht mehr begeistern. Aus seinem Büro blickt Ali Bulac auf das Istanbuler Viertel Fatih, das Anfang der neunziger Jahre Islamisten beflügelte, westlich orientierten Bürgern aber wegen der zahlreichen verschleierten Frauen und bärtigen Männer auf den Strassen Angst einjagte. Heute hat auch Fatih an Brisanz verloren. Die Schwächung der türkischen Islamisten ist laut Bulac vor allem der Drohung mit einem erneuten Verbot der Partei zuzuschreiben. Das Verbot der Refah habe den Wählern signalisiert, dass der Staat eine Machtergreifung der Islamisten nie mehr zulassen werde. Ziel der Reformer sei es, so sagt Bulac weiter, dieses Gefühl der Resignation und der Hilflosigkeit unter islamistischen Wählern aufzufangen und vor allem die Partei vor einem neuen Verbot zu bewahren. Die Konservativen haben laut Bulac die Welt zwischen «uns und die anderen» aufgeteilt, und sie hätten sich in der Zeit des Kalten Kriegs in dieser Logik gestärkt gefühlt. Sie betrachteten sich ohnehin als Aussenseiter eines übermächtigen Staates, des «Staates der anderen», und sie würden einer Konfrontation mit diesem nicht ausweichen. Die Reformer hätten es aber satt, in einer aussichtslosen Konfrontation mit dem Staat die ewigen Prügelknaben der Nation zu sein. Sie seien auf der Suche nach einer «friedlichen Koexistenz» mit dem Staat und der gesamten Gesellschaft. Der EU näher als Iran Tatsächlich sind die Reformer keine Aussenseiter mehr. Meist gut ausgebildet, zum Teil als einflussreiche Industrielle oder erfolgreiche Geschäftsleute sind sie in der Gesellschaft integriert und wollen aktiv am politischen Geschehen des Landes teilnehmen. Im Gegensatz zu den Konservativen, die sich mit der muslimischen arabischen Welt identifizieren, fühlen sich die Reformer in Fragen wie bürgerliche Freiheiten und Menschenrechte näher dem christlichen Europa als einem Regime wie dem iranischen. Von der Europäischen Union hoffen sie, auch Schutz zu erhalten. «Was wir wollen, ist eine islamistisch- demokratische Partei, nach dem Vorbild der christlich-demokratischen Parteien Europas», erklärt der Abgeordnete Bülent Arinc. In der überwältigenden Mehrheit gehören die Abgeordneten von Fazilet dem Flügel der Reformer an. Die Tageszeitung «Hürriyet» lobte nach dem Parteitag das neueste Experiment von Fazilet. Die Türkei sei das einzige muslimische Land mit einer demokratischen Führung, schrieb ihr Kolumnist Sedat Ergin. Nun sei die Türkei auch das erste Land, das demokratische Verfahren ermögliche innerhalb einer Partei, welche den politischen Islam repräsentiere. Sollte es Gül und seinen Anhängern tatsächlich gelingen, Fazilet in eine islamistisch-demokratische Partei zu transformieren, wäre dies tatsächlich ein Novum. Wahrscheinlich werden die Reformer auch deshalb von den USA unterstützt. Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion war Washington darum bemüht gewesen, in der Türkei eine «demokratische, westlich orientierte, islamistische Bewegung» ins Leben zu rufen, die den unabhängig gewordenen Republiken Zentralasiens und langfristig auch den Ländern des Nahen Ostens als Modell dienen könnte.
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