Frankfurter Rundschau 30.05.2000 Türkischer Reformstau Wann sich die Türkei für die EU-Aufnahme qualifiziert, liegt allein an ihr Von Gerd Höhler Glaubt man dem türkischen Ministerpräsidenten Bülent Ecevit, dann ist die Aufnahme seines Landes in die Europäische Union nur noch eine Frage von wenigen Jahren. Und auch Außenminister Ismail Cem drängt: Wenn es nicht bald zu Beitrittsverhandlungen komme, drohe "Enttäuschung" in der Türkei. Doch Anlaß, enttäuscht zu sein, haben bisher vor allem jene, die der Türkei den Kandidatenstatus kredenzten und damit den Eindruck entstehen ließen, das Land sei bereits fast EU-tauglich. Davon kann keine Rede sein. Die immer wieder angemahnten Gesetzesreformen kommen nicht vom Fleck. Kurdisch, Muttersprache für Millionen türkische Staatsbürger, bleibt in den Schulen und Massenmedien eine verbotene Sprache. Nicht einmal den politischen Willen, die Todesstrafe abzuschaffen, die ohnehin nur noch auf dem Papier steht, hat die Regierung in Ankara bisher aufgebracht. Während der neue Staatspräsident Ahmet Necdet Sezer beklagt, es gebe keine verwurzelte Tradition der Demokratie in seinem Land und damit den Finger genau in die Wunde legt, tun die Behörden alles, um ihn zu bestätigen: Missliebige Publikationen werden gleich im Dutzend beschlagnahmt, Kundgebungen verboten, Menschenrechtler verfolgt. Folter, so belegte der Untersuchungsbericht eines türkischen Parlamentsausschusses, ist an der Tagesordnung. Wann sich die Türkei für die EU-Aufnahme qualifiziert, liegt allein an ihr. Wenn es bei dem bisherigen Reformstau bleibt, wird aus dem Beitritt nie etwas.
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