Süddeutsche Zeitung, 31.5.2000 Irans siamesische Zwillinge Die Wahl des Parlamentsvorsitzenden zeigt, wie sehr Reformer und Radikale einander brauchen Von Rudolph Chimelli Die Wahl des heutigen Reform-Anhängers Mehdi Karrubi zum Präsidenten des iranischen Parlaments ist ein Zeichen dafür, wie die Machtverhältnisse innerhalb des Regimes sich - hoffentlich - entwickeln werden. Der Madschlis-Vorsitzende steht an dritter Stelle der Hierarchie hinter dem geistlichen Führer und dem Präsidenten. Er wird großen Einfluss darauf haben, wie die Zweidrittelmehrheit der Reformer ihre Machtposition ausbaut. Er ist ferner Mitglied des nationalen Sicherheitsrates. Wenigstens von der Absetzung missliebiger Regierungsmitglieder wie des liberalen Kulturministers Mohadscherani, welche die alte Madschlis bis zuletzt betrieb, dürfte künftig keine Rede mehr sein. Ein Liberaler ist der 63-jährige Karrubi allerdings von Haus aus nicht. Als Revolutionär der ersten Stunde gehörte er der radikalen islamischen Linken an. Von 1989 bis 1992, als diese das Parlament beherrschte, war er schon einmal Madschlis-Vorsitzender. Doch Karrubi und viele seiner Gesinnungsgenossen haben erkannt, dass eine islamische Gesellschaft ohne zeitgemäße Erneuerung wenig Überlebenschancen hat. Er steht heute dem Reform-Präsidenten Mohammed Chatami nahe. Als Mitglied der gemäßigten "Vereinigung kämpfender Kleriker" dürfte Karrubi über Einfluss beim Wächterrat, dem geistlichen Verfassungsgericht, verfügen, das alle vom Parlament beschlossenen Gesetze wegen Unvereinbarkeit mit den Grundsätzen des Islam aufheben kann. Der frühere Madschlis-Vorsitzende Natek Nuri, ein Vertreter der harten konservativen Linie, trat nicht mehr an. Er wird Berater des geistlichen Führers Ali Chamenei. Auch der mehrmalige Staatspräsident und Madschlis-Vorsitzende Rafsandschani hatte schon letzte Woche aufgegeben, als ihn die Reformer wissen ließen, sie würden ihn durchfallen lassen. Nach monatelangem Gezerre um seinen Parlamentssitz legte er letzte Woche überraschend sein Mandat nieder. Als Hinterbänkler wollte er nicht in der Madschlis sitzen. Er bleibt jedoch Vorsitzender des mächtigen Schlichtungsrates, der bei unlösbaren Konflikten zwischen Parlament und geistlichen Verfassungswächtern das letzte Wort hat. Die Islamische Beteiligungsfront des Präsidentenbruders Mohammed Resa Chatami, die bei den Wahlen im Februar den größten Erfolgt errang, hatte gleichfalls keinen Kandidaten aufgestellt. So wurde Karrubi von 186 der 248 anwesenden Abgeordneten gewählt. Es gab 63 Enthaltungen, aber keine Gegenstimme. Dies deutet darauf hin, dass Karrubis Wahl Teil eines hinter den Kulissen gesicherten Kompromisses ist. Alles Wichtige, was in den letzten Wochen in Teheran geschah, spricht dafür, dass eine solche stillschweigende Übereinkunft über die Machtverteilung besteht. Die Schließung praktisch der gesamten Reformpresse durch die konservative Justiz hatte Chatami ohne erkennbare Aufregung hingenommen. Doch als sich erwies, dass konservative Extremisten das Auszählverfahren zur Parlamentswahl in einem Maße verschleppten, dass die Konstituierung der neuen Madschlis gefährdet schien, sprach der geistliche Führer ein Machtwort. Schon vorher hatte Ajatollah Ali Chamenei erklärt, das Land brauche Reformer und Konservative. Iran ist kein Monolith der Macht. Husaren des Fortschritts können aussichtslose Attacken für eine Lockerung des Sittenkodex reiten oder die theokratischen Fundamente des Staates in Frage stellen. Reaktionäre Extremisten haben genug Spielraum, um ihre Gegner gelegentlich durch Terror einzuschüchtern. Dabei bleiben sich jedoch die Häupter beider Lager, der konservative geistliche Führer und der Reformpräsident, immer bewusst, dass sie aufeinander angewiesen sind. Wie siamesische Zwillinge sind sie verbunden: Keiner kann sich vom anderen trennen, ohne sich selber zu gefährden. Den Konservativen verbleiben viele Positionen. Neben der Justiz kontrollieren sie die Streitkräfte, die Revolutionsgarden, Polizei und Verwaltung. Erstmals haben jedoch die Reformer eine Chance, wirklich Gewicht auf die Waagschale zu werfen.
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