Salzburger Nachrichten (A), 2.6.2000 Langsames Herantasten an Europa Ankaras Reformeifer hat stark nachgelassen - Die Todesstrafe soll immerhin abgeschafft werden SUSANNE GÜSTEN ISTANBUL (SN, APA). Javier Solana ist ein höflicher Mann. Der EU-Au-ßenpolitiker, der am Donnerstag in Ankara mit der türkischen Führung konferierte, betonte vor seinem Besuch in einem Fernsehinterview, die Beziehungen zwischen der EU und der Türkei hätten sich "in einer positiven Atmosphäre entwickelt". Eine freundliche Umschreibung - denn seit der Anerkennung der Türkei als EU-Beitrittskandidat vor einem halben Jahr hat das Reformtempo in Ankara stark nachgelassen. Nicht nur das Gerangel um die Neubesetzung des Präsidentenamtes hielt die türkischen Politiker davon ab, Reformen in die Wege zu leiten, sondern auch die Scheu vor unpopulären Entscheidungen: Die für die EU-Mitgliedschaft nötigen Veränderungen sind für viele in Ankara nur schwer verdaulich. "Die Türkei hat ihre Hausaufgaben nicht gemacht", kritisierte die liberale Zeitung "Yeni Binyil" am Donnerstag. Reformvorhaben, die der EU versprochen wurden, sind liegen geblieben. Angesichts der Kritik aus Brüssel ist die Türkei jetzt bemüht, Reformeifer zu demonstrieren. So legte ein EU-Koordinierungsausschuss in Ankara eine Liste mit Reformvorschlägen vor, die zeitgleich mit dem Beginn der Gespräche Solanas in Ankara bekannt wurde. Danach soll bis Ende 2001 die Todesstrafe abgeschafft werden. Zudem schlägt der Ausschuss vor, die Meinungsfreiheit auszuweiten, den Einfluss des Militärs auf die Politik zurückzudrängen und die Unabhängigkeit der Justiz zu stärken. Das Paket bedeutet eine kleine Revolution. Im Vergleich zu den jetzt anstehenden Aufgaben waren die von der Regierung im vergangenen Jahr durchgesetzten Neuerungen - Entfernung der Militärrichter aus den zivilen Gerichten und schärfere Strafen für Folterer - eine Kleinigkeit. Starke Kräfte gegen EU-gerechte Reformen Und genau da liegt das Problem: Es gibt starke Kräfte in der Türkei, die sich gegen radikale Änderungen wehren; zudem sind einige der vorgeschlagenen Reformen in der Bevölkerung stark umstritten. So fordert die rechtsradikale Partei MHP, eine Koalitionspartnerin von Ministerpräsident Bülent Ecevit, die Todesstrafe dürfe erst nach Hinrichtung von PKK-Chef Abdulah Öcalan aufgehoben werden. Das Zurückschrecken vor großen und unpopulären Aufgaben ist nicht der einzige Grund, weshalb die EU-Bemühungen der Türkei nicht so recht vom Fleck kommen. Ankara will die Vorbereitungen zum Beitritt von einem "EU-Generalsekretariat" der türkischen Regierung koordinieren lassen. Die Vorbereitungen sind zwar weit gediehen, doch der krönende Abschluss fehlt - die Besetzung des Vorsitzes. Der Chefposten wird für Ex-Ministerpräsident Mesut Yilmaz freigehalten, der sich zur Zeit noch vor Untersuchungsausschüssen des Parlaments wegen Korruptionsvorwürfen verantworten muss.
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