junge Welt, 02.06.2000 »Die Folter ist eine gängige Praxis« Türkei: Menschenrechtler legten Parlament Bericht über Mißhandlungen vor Die systematische Folter politischer Gefangener ist in der Türkei weitverbreitete Praxis. Das wird nun a uch in einem offiziellen Bericht des türkischen Parlamen ts festgestellt. Aus dem Bericht geht außerdem hervor, daß die Folter sogar gegen Kinder eingesetzt wird. In einer Aktion, die einer kleinen Revolution gleichkommt, hat die 25köpfige Menschenrechtskommission im türkischen Parlament am Wochenende einen umfassenden Bericht über Folterpraktiken in türkischen Polizeistationen veröffentlicht. Dabei belegt der Bericht mit Dokumenten und Fotomaterial, daß in der Türkei bestimmte Folterpraktiken weit verbreitet sind und immer noch systematisch angewendet werden. Auf Druck internationaler Menschenrechtsorganisationen hatte Ankara bisher lediglich eingestanden, daß quasi als Ausrutscher in Einzelfällen mißhandelt worden sei. Systematische Folter wurde stets resolut abgestritten. Die Folter beschränkt sich nicht nur auf politische Gefangene, sondern auch bei gewöhnlichen Kleinkriminellen ist sie gängige Praxis auf den Polizeirevieren. Die parlamentarische Menschenrechtskommission hat über Monate hinweg zahlreiche Folteropfer befragt und ohne Voranmeldung Polizeiposten besucht. Beinahe in allen Polizeistationen stieß sie auf Folterinstrumente. Zu den geläufigsten Mißhandlungen gehören laut dem Bericht die Falaka (Schläge auf die Fußsohlen, bis die Haut aufplatzt), das Abspritzen mit eiskaltem Wasser; sexuelle Übergriffe bis hin zur Vergewaltigung und Elektroschocks. Im Istanbuler Frauen- und Kinder-Gefängnis Bakirköy erzählten sämtliche der befragten Kinder, daß sie gefoltert worden seien. Ein Folterknecht in Polizeiuniform in einem anderen Viertel Istanbuls, der als »Schläuche-Süleyman« berüchtigt war, habe die Kinder jeweils nach ihrer Lieblingsfarbe gefragt, um sie dann mit Plastik-Schläuchen der gewählten Farbe schwer zu mißhandeln. Die parlamentarische Kommission hatte ihre Arbeiten im Jahr 1998 aufgenommen und wurde damals von der Regierung Ecevit im Rahmen einer Kampagne gegen die Folter unterstützt. Unter dem Vorsitz der Sozialdemokratin Sema Piskinsüt ist nun dieser brisante Bericht erschienen. Warum er nicht unterdrückt wurde, wie es sonst bei mißliebigen Nachrichten geschieht, sorgt nun für Spekulationen. Allerdings hat sich in den letzten Jahre in der türkischen Gesellschaft ein zunehmendes Unbehagen über grobe Menschenrechtsverletzungen durch Polizei und Militär eingestellt. Ausschlaggebend für die Wende dürfte jedoch der maßgebende Einfluß der Wirtschaftkreise in der Türkei gewesen sein, die zur Überzeugung gelangt waren, daß einzig mit demokratischen Reformen und einer verbesserten Menschenrechtsbilanz das Land enger an den lukrativen Europa-Markt heranrücken konnte. So wurden nach dem EU- Gipfeltreffen in Helsinki im Dezember 1999, als der Türkei der Status einer Beitrittskandidatin zuerkannt worden war, Forderungen nach mehr Demokratie und Schutz der Menschenrechte auch in breiteren Bevölkerungsschichten des Landes laut. Rainer Rupp
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