Frankfurter Rundschau, 3.6.2000 Mit beschränkter Hoffnung Zu glauben, der neue Präsident werde der Türkei im Alleingang eine "neue Ära" bescheren und die Eintrittskarte nach Europa lösen, ist angesichts der tatsächlichen Machtstrukturen naiv Von Gerd Höhler Wenn der neue türkische Staatspräsident Ahmet Necdet Sezer durch Ankara fährt, dann braust sein Konvoi nicht über abgesperrte Straßen. Gewissenhafter als die meisten anderen Automobilisten respektiert Sezer das Rotlicht an den Kreuzungen. "Niemand steht über dem Gesetz", verkündete der Präsident gleich nach seinem Amtsantritt. Glaubt man manchen Istanbuler Zeitungskommentatoren, hat mit der Wahl des bisherigen Verfassungsgerichtspräsidenten Sezer zum Staatsoberhaupt eine "neue Ära" für die Türkei begonnen. Ob das stimmt, muss die Zukunft zeigen. Aber ein Signal ist die Wahl des parteilosen Juristen sicher. Er ist der erste Präsident, der aus keinem der beiden traditionellen Machtzentren kommt, dem Militär oder der Politik. Das könnte ihm in den Augen vieler Türken größere Glaubwürdigkeit und seinen Worten mehr Gewicht geben. Schon als Verfassungsgerichtspräsident ließ Sezer aufhorchen. Zum Beispiel, als er vor einem Jahr mehr Meinungsfreiheit in seinem Land anmahnte: "Wenn Gedanken strafbar werden, stirbt die Demokratie", warnte er damals. Sezer setzte sich auch für eine Aufhebung des kurdischen Sprachverbots in Medien und Schulen ein. Es dürfe keinen Unterschied machen, in welcher Sprache man seine Meinung äußere, mahnte er. Jeden Normalbürger hätten solche Äußerungen in Konflikt mit der Justiz gebracht. Man erinnert sich: Sogar gegen Außenminister Ismail Cem wurden Ermittlungen eingeleitet, als er sich kürzlich für die Legalisierung des Kurdischen aussprach. Zum Prozess kam es nicht. Gegen den obersten Verfassungsrichter Sezer wagten selbst die strengen türkischen Staatsanwälte nicht einzuschreiten. Dass er auch als Präsident seine Meinung zu sagen gedenkt, unterstrich Sezer gleich nach seiner Vereidigung im Parlament: Es gebe im gesellschaftlichen und politischen Leben der Türkei kein wirkliches Verständnis für die Demokratie, keine verwurzelte demokratische Tradition. Damit legte er den Finger in die Wunde. Er dämpfte zugleich übertriebene Erwartungen, die manche mit seiner Wahl verbinden. Selten hat ein Staatsoberhaupt in der Türkei so breite Zustimmung gefunden. Sogar die Islamisten begeistern sich für Sezer, obwohl unter dessen Vorsitz das Verfassungsgericht die religiöse Wohlfahrtspartei verbot. "Wie einer von uns" spreche Sezer, freut sich Recai Kutan, Chef der moslemischen Tugend-Partei. Und die militante PKK geht sogar so weit, Sezer als "Präsident aller Kurden" zu vereinnahmen. Nicht wenige türkische Intellektuelle glauben, Sezer werde dem Land die erst einen Spalt breit geöffnete Tür zur EU schon bald ganz aufstoßen. Aber es kommen auch ganz andere Signale aus Anatolien. Wenige Stunden vor der Wahl Sezers ließen die Behörden in den unter Ausnahmezustand stehenden, überwiegend kurdisch besiedelten Südostprovinzen ein Dutzend Presseorgane verbieten. Während der neue Präsident vor dem Parlament mangelnde demokratische Traditionen beklagte, gaben sich die Staatsanwälte alle Mühe, ihn zu bestätigen: Sie leiteten Ermittlungsverfahren gegen 16 prominente Intellektuelle ein, die jetzt in einem Sammelband unter dem Titel "Meinungsfreiheit 2000" eine Reihe in früheren Jahren verbotener Artikel erneut publizierten. Und dann, Sezer hatte gerade an seinem neuen Schreibtisch im Präsidentenpalast Platz genommen, ließen die Behörden die Büros des türkischen Menschenrechtsvereins in den Kurdenmetropolen Diyarbakir und Van wegen "Störung der öffentlichen Ordnung" schließen. Das zeigt: Es gibt starke Kräfte in der Türkei, die mit allen Mitteln die Demokratisierung des Landes hintertreiben. Es sind jene Kräfte, die man als den "tiefen Staat" bezeichnet. Das ist ein neues, inzwischen dominierendes Machtzentrum in der Türkei, die bis in die siebziger Jahre hinein zwei Pole kannte, das Militär und die Politik. Der "tiefe Staat" ist ein mittlerweile bis in die letzten Winkel des Landes verästeltes, in jeden Lebensbereich reichendes gefährliches Gewebe. Die Spinne in diesem Netz ist der in den vergangenen Jahren immer weiter verselbstständigte Sicherheitsapparat. Er verfügt inzwischen über weit verzweigte Verbindungen zum organisierten Verbrechen, zur Politik, zu Wirtschaftsführern und zum Militär. Der neue Präsident Sezer ist ein redlicher Mann. Anders als fast alle türkischen Spitzenpolitiker wird er mit Unregelmäßigkeiten nicht in Verbindung gebracht. Das könnte ihm Autorität geben. Aber zu glauben, der neue Präsident werde der Türkei im Alleingang eine "neue Ära" bescheren und die Eintrittskarte nach Europa lösen, ist angesichts der tatsächlichen Machtstrukturen naiv. Sezer selbst dürfte das am besten wissen.
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