Freitag, 9.6.2000

Oliver Tolmein

Mutwilliger Freispruch

KEINE ERMITTLUNGEN GEGEN DIE NATO IN DEN HAAG

Carla del Ponte sorgt für einen Präzedenzfall und eine bemerkenswerte Auslegung des internationalen Kriegsrechts

Die Entscheidung der Chefanklägerin des Internationalen Straftribunals für das frühere Jugoslawien, die NATO vollkommen ungeschoren zu lassen, kann keinesfalls überraschen. Es wäre dennoch falsch, dieses Votum routiniert oder resigniert abzuhaken. Dass del Ponte nicht einmal eigene Untersuchungen gegen die NATO aufnimmt, schafft - wie viele Vorgänge im Rahmen des Haager Tribunals - einen Präzedenzfall im internationalen Recht, der auch für den geplanten Internationalen Strafgerichtshof nicht ohne Bedeutung sein dürfte.

Zum einen macht dieses Vorgehen einen gravierenden Mangel des Verfahrensrechtes deutlich: Es gibt keine Instanz, die del Pontes Entscheidungen kontrollieren könnte. Ein dem Klageerzwingungsverfahren im nationalen Recht vergleichbares Institut wäre aber im internationalen Strafrecht gerade deswegen von Wert, weil dort eine weitere, wenngleich nicht direkt wirkende Kontrollinstanz - die Öffentlichkeit nämlich - kaum präsent ist. Die Unabhängigkeit der Chefanklägerin, an sich wünschenswert und wichtig, birgt eben auch ein Element des Willkürlichen in sich. Dass bislang alle obersten Ankläger aus westlichen Staaten kamen oder wie der weiße Südafrikaner Richard Goldstone ihre entscheidende Prägung durch westliche Rechtsvorstellungen erhalten hatten, lässt dieses Problem noch plastischer werden.

Genauso bedenklich erscheint allerdings die Rechtsauffassung, die del Pontes Argumentation zugrunde liegt. Ihr Büro, so die Chefanklägerin des Straftribunals, sei zu dem Schluss gekommen, die NATO habe keine "gezielten Bombenangriffe auf Zivilisten" geflogen. Einmal davon abgesehen, dass Ermittlungsbehörden an sich nicht Schlüsse ziehen, sondern Fakten aufbereiten sollen, dokumentiert diese Stellungnahme eine bemerkenswerte Auffassung von internationalem Kriegsrecht. Artikel 3 im Statut des Internationalen Straftribunals ermächtigt die Chefanklägerin, Personen zu verfolgen, die gegen Gesetze und Gebräuche des Krieges verstoßen haben. Grundlegend für das Kriegsrecht ist das Diskriminierungsgebot: Zwischen zivilen und militärischen Zielen ist zu unterscheiden - der Angriff auf zivile Ziele ist verboten. Die NATO hat erklärtermaßen gezielt Industriebetriebe, serbische Fernsehsender und Elektrizitätswerke angegriffen. Del Ponte zufolge sind diese Ziele, die zwar nicht verteidigt wurden und die auch keinem Militär unterstanden, dennoch als "militärisch" zu qualifizieren - eine Vorstellung, die auch Juristen der US-Army derzeit vertreten, die aber zur Folge hat, dass das internationale Kriegsrecht erheblich an Schärfe verliert.

Del Pontes Interpretation weicht allerdings noch in einer anderen Frage von den bislang üblichen Sichtweisen ab. In Artikel 3 des erwähnten Statuts werden "die mutwillige Zerstörung von Städten oder Dörfern", aber auch "der Angriff auf unverteidigte Gebäude" ausdrücklich als Verbrechen erwähnt, für die das Haager Tribunal zuständig ist. Dass unterschieden wird zwischen "mutwilligem Vorgehen" und dem einfachen tatsächlichen Verstoß, macht deutlich, dass es auch nach Vorstellung des Internationalen Straftribunals unterschiedliche Formen vorsätzlichen Handelns gibt. Die "gezielten Angriffe auf Zivilisten", die es nach Auffassung del Pontes seitens der NATO nicht gegeben hat, dürften der "mutwilligen Zerstörung" entsprechen: Erforderlich ist ein absichtliches Handeln. "Angriffe auf unverteidigte Gebäude" dagegen verlangen gerade kein "mutwilliges", also absichtliches Vorgehen. Hier reicht der zumindest in den westlichen Rechtsordnungen bekannte bedingte Vorsatz, also das Inkaufnehmen eines Erfolges aus. Die NATO hat schon durch die Wahl der Waffen, nämlich großflächig wirkende Bomben, die aus beachtlicher Höhe abgeworfen wurden, in Kauf genommen, was in erheblichem Umfang geschehen ist: dass auch unverteidigte Gebäude zerstört und Zivilisten getötet wurden. Sie hat ihre Taktik auch nach den ersten Ereignissen dieser Art, nachdem sie also wusste, dass es sich nicht um ein abstraktes Risiko handelt, nicht geändert.

Carla del Pontes Handeln schafft, um es noch einmal zu sagen, einen klaren Präzedenzfall. Es zeigt, dass eine institutionalisierte Rechtsprechung auf internationaler Ebene keineswegs bessere Chancen für die Rechtsdurchsetzung schaffen muss, sondern auch die Aufweichung materiellen Rechts bewirken kann. Jetzt sind die NGO gefordert, die sich für einen Weltgerichtshof stark machen. Wenn Sie dieses Vorgehen von del Ponte einfach akzeptieren, wirft das ein fahles Licht auf das, was uns künftig im internationalen Strafrecht erwartet.