Frankfurter Rundschau, 8.6.2000 In der türkischen Koalition knirscht es immer lauter Die rechtsextreme MHP macht kaum einen Hehl daraus, dass ihr Neuwahlen zupass kämen Von Gerd Höhler (Athen) Nach außen hin demonstrieren die Partner noch Harmonie. Aber es knirscht im Gebälk der türkischen Regierungskoalition. Im Streit über Korruptionsvorwürfe gegen den Vorsitzenden der konservativ-nationalen Mutterlandspartei (Anap), Mesut Yilmaz, forderten sich jetzt zwei der drei Koalitionsmitglieder gegenseitig auf, das Regierungsbündnis zu verlassen. An diesem Freitag jährt sich das Vertrauensvotum für Ministerpräsident Bülent Ecevit zum ersten Mal. Die von dem Linksnationalisten geführte Koalition, der dessen Partei der Demokratischen Linken (DSP), die rechtsextreme Partei der Nationalistischen Bewegung (MHP) und die Anap angehören, gilt als die stabilste Regierung der vergangenen Jahre. Bei der Demokratisierung des Landes entwickelte sie zwar in den zurückliegenden zwölf Monaten keinen großen Reformeifer; immerhin aber nahm sie endlich die seit Jahren überfällige Sanierung der Staatsfinanzen in Angriff. Doch es mehren sich die Stimmen jener, die dem Regierungsbündnis ein baldiges Ende vorhersagen. Jüngstes Indiz für die latenten Spannungen war vergangene Woche die Entscheidung eines parlamentarischen Untersuchungsausschusses, den Anap-Chef und Ex-Premier Yilmaz wegen angeblicher Unregelmäßigkeiten bei der Vergabe staatliches Landes vor den Obersten Gerichtshof zu bringen. Mit der Opposition stimmten auch die MHP-Abgeordneten im Ausschuss gegen Yilmaz. Die Absicht des Anap-Vorsitzenden, als Vize-Premier wieder in die Regierung aufzurücken, hat sich damit vorerst zerschlagen. Zwar liegt die Entscheidung, ob er sich wirklich vor Gericht verantworten muss, beim Parlament. Doch das wird sich wohl erst nach der Sommerpause mit dem Fall beschäftigen. Bis dahin gilt Yilmaz als nicht "ministrabel". MHP-Chef Devlet Bahceli versucht, die Sache herunterzuspielen. Die Abstimmung in dem Untersuchungsausschuss, bei der die MHP-Abgeordneten "ihrem Gewissen gefolgt" seien, dürfe keine Zweifel an der Koalitionstreue seiner Partei wecken, sagte Bahceli am Dienstag. Wenn die Anap kein Vertrauen mehr in die MHP habe, könne sie ja die Koalition verlassen, meinte er. Am Mittwoch konterte Yilmaz: Er forderte seinerseits die MHP auf, die Koalition zu beenden. Ecevit forderte daraufhin eine Beilegung des Streits. Das Vorgehen der MHP verstärkt den Eindruck, dass die Partei mit einem baldigen Bruch der Koalition rechnet, vielleicht dieses Ende sogar selbst herbeiführen will. Sie spekuliert offenbar auf vorzeitige Wahlen. Tatsächlich deutet sich für den Herbst die Möglichkeit eines Urnengangs an. In den kommenden Monaten wird mit einer Entscheidung im Verbotsverfahren gegen die islamische Tugend-Partei (FP) gerechnet. Verbietet das Verfassungsgericht die FP als Nachfolgeorganisation der Anfang 1998 zwangsweise geschlossenen Wohlfahrtspartei, würden mindestens 70 der 103 FP-Abgeordneten ihre Mandate verlieren. Damit wären Nachwahlen in den betreffenden Wahlkreisen fällig. Die MHP, die aus der Parlamentswahl vom vergangenen Jahr überraschend als zweitstärkste Partei hervorging, hat gute Aussichten, viele dieser Mandate zu gewinnen. Sie könnte sogar zur stärksten Fraktion im Parlament aufsteigen - und damit Ansprüche auf das Amt des Regierungs-chefs anmelden.
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