Neue Zürcher Zeitung (CH), 7.6.2000
Wieder ein heftiges Erdbeben in der Türkei
Nordanatolische Verwerfungslinie weiterhin aktiv
it. Istanbul, 6. Juni
Ein heftiges Erdbeben hat am frühen Dienstagvormittag die zentraltürkischen
Provinzen Cankiri und Ankara erschüttert und Hunderte von Häusern
zerstört. Mindestens 3 Personen sind gemäss Angaben der türkischen
Presse ums Leben gekommen, weitere 80 wurden zum Teil schwer verletzt.
Das Beben der Stärke 5,9 ereignete sich um 5.41 Uhr (Ortszeit),
es hatte sein Epizentrum im Distrikt «Cerkes», der rund
100 Kilometer nördlich der Hauptstadt Ankara liegt, und war von
Zentralanatolien bis an die Küste des Schwarzen Meers zu spüren.
Die Erschütterungen dauerten 30 Sekunden lang, lange genug, um
die Erinnerung an die todbringenden Erdbeben vom letzten Jahr wachzurufen
und zu einem neuen Albtraum werden zu lassen.
Reaktionen aus Panik
Panik brach aus, nachdem mehrere Nachbeben mit Stärken bis zu 4,5
die Erde immer wieder von neuem erschüttert hatten. Tausende Einwohner
liefen auf die Strassen, andere stürzten sich aus Fenstern oder
von den Balkonen. Für einen Jugendlichen in Cerkes war der Sprung
vom Balkon tödlich. Im Städtchen Cubuk wurde ein 17-jähriger
Mann unter einem dreistöckigen Haus begraben. In der Ortschaft
Orta, wo bislang auch die meisten Sachschäden registriert wurden,
konnte der Leichnam eines älteren Mannes aus den Trümmern
seines Hauses geborgen werden. Die Polizei hat mittlerweile die Bevölkerung
aufgerufen, nicht in die Häuser zurückzukehren. Die Schulen
in der Region wurden geschlossen. Die Türkei habe diesmal nicht
so viele Menschenleben zu beklagen wie im letzten Jahr, sagte erleichtert
Ministerpräsident Ecevit in Oslo, wo er sich für einen offiziellen
Besuch aufhält. Er versprach rasche Hilfe.
Besser vorbereitet
Wie viele Opfer die Erdbeben im August und im November letzten Jahres
tatsächlich gefordert haben, bleibt weiterhin unklar. Die Schätzungen
variieren noch immer zwischen 17 000 und 35 000. Im Vergleich zum humanitären
Debakel von damals will die Türkei in diesem Jahr aber auf Naturkatastrophen
besser vorbereitet sein. Vorige Woche hat etwa die Armeeführung
die Gründung eines Sonder-Bataillons für Naturkatastrophen
vorgestellt. Auch die Regierung beeilte sich diesmal, Lebensmittel,
Zelte und Decken in die Region zu schicken.
Dass die drei vernichtenden Erdstösse relativ rasch aufeinander
folgten, führt vor Auge, dass die rund 1000 Kilometer lange Nordanatolische
Verwerfungslinie, die von der Ägäis im Nordwesten des Landes
entlang des Schwarzen Meers bis hin zur armenischen Grenze verläuft,
nach wie vor aktiv ist. Und so macht sich die lähmende, in den
letzten Monaten verdrängte Angst vor einem von vielen Seismologen
vorausgesagten schweren Erdbeben in Istanbul wieder breit.
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