Salzburger Nachrichtenm(A), 9.6.2000 Türkei: Regierungskrise verzögert Reformen Koalitionsparteien streiten wegen Anklage gegen Mesut Yilmaz - EU verlangt Verbesserungen bei den Menschenrechten ISTANBUL (SN, APA, dpa). Rund ein Jahr, nachdem das türkische Parlament die derzeitige Regierung bestätigt hat, ist die Koalition in eine Krise geraten. Bei dem Streit zwischen den Partnern geht es um "Vertrauen": Auslöser der Auseinandersetzung zwischen der konservativen Mutterlandspartei (Anap) und der rechtsextremistischen Partei der Nationalistischen Bewegung (MHP) ist die Entscheidung einer Parlamentskommission, Ex-Ministerpräsident und Anap-Chef Mesut Yilmaz wegen des Vorwurfs des Amtsmissbrauchs vor das Oberste Gericht zu bringen. Auch MHP-Politiker hatten für die Entscheidung gestimmt. Zwar muss das Parlament noch über den Fall abstimmen, doch die Koalitionspartner liefern sich seit Tagen heftige Wortgefechte. Man könne auch MHP-Chef Devlet Bahceli wegen Korruption vor Gericht bringen, drohte Ersin Taranoglu (Anap). Yilmaz meinte, wenn die MHP davon ausgehe, dass die Anschuldigungen gegen ihn richtig seien, dann müsse auch die Zusammenarbeit beendet werden. Nur ein Gericht könne die Unschuld von Yilmaz bestätigen, sagte dagegen Bahceli. Indes versucht der dritte Koalitionsführer, Ministerpräsident Bülent Ecevit von der Demokratischen Linkspartei (DSP), die Wogen zu glätten. Denn die Regierung hat eigentlich ganz andere Probleme: Der EU-Kandidat muss zahlreiche Reformen verwirklichen. Ende vergangenen Jahres hatte die Türkei auf dem EU-Gipfel in Helsinki schnelle Reformen angekündigt - doch seitdem i st nicht viel passiert. Grund dafür war unter anderem die endlose Diskussion über einen Nachfolger für Präsident Süleyman Demirel. Inzwischen ist Ahmet Necdet Sezer gewählt worden, der bisherige Vorsitzende des Verfassungsgerichts. Auch er hat die Regierung zu Reformen aufgefordert. Zumindest hat die Regierung in den vergangenen zwölf Monaten die Privatisierung vorangetrieben. Auch bei der Inflation gibt es positive Signale. Bis zum Jahresende soll die jährliche Teuerung, die vor kurzem noch bei über 60 Prozent gelegen hat, auf 25 Prozent gesenkt werden. Bei den Menschenrechten verlangt die EU deutliche Verbesserungen sowie die Abschaffung der Todesstrafe. Doch die Regierung scheint sich darüber nicht einig zu sein: Ecevit ist als Gegner der Todesstrafe bekannt. MHP-Chef Bahceli will dagegen, dass der Chef der verbotenen Arbeiterpartei Kurdistans (PKK), Abdullah Öcalan, gehängt wird - dann könne die Todesstrafe immer noch abgeschafft werden. Die Regierung will den Fall zumindest vorerst nicht vor das Parlament bringen, sondern eine Entscheidung des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte abwarten. Hungerstreik für Kurdenführer Öcalan Der zum Tode verurteilte PKK-Chef Abdullah Öcalan muss unterdessen weiter auf der Gefängnisinsel Imrali bleiben - trotz gesundheitlicher Probleme. Wie die im Internet verbreitete kurdische Zeitung "Özgür Politika" berichtete, haben die türkischen Behörden einen Antrag der Öcalan-Anwälte zur Verlegung ihres Mandanten in ein anderes Gefängnis abgewiesen. Nach Angaben der Anwälte klagt Öcalan über Atemprobleme und Schlafstörungen. Grund für den schlechten Gesundheitszustand sei unter anderem die schlechte Belüftung der 13 Quadratmeter großen Zelle, die hohe Luftfeuchtigkeit auf der Insel im Marmarameer und die Tatsache, dass Öcalan nur wenig Zeit im Freien verbringen dürfe. In Rom haben Mittwoch Abend rund 100 Kurden und Italiener vor dem Kolosseum einen Hungerstreik gestartet, um bessere Haftbedingungen für Öcalan zu erreichen. Die Demonstranten fordern unter anderem, dass eine Delegation des Europarates und eine Gruppe internationaler Ärzte Öcalan besucht, um seinen Gesundheitszustand festzustellen. "Öcalan bleibt ein Symbol der Freiheit und des Friedens Kurdistans, daher werden wir nicht nur in Rom, sondern auch in anderen europäischen Städten demonstrieren", erklärte eine Sprecherin der Demonstranten.
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