Neue Zürcher Zeitung, 9. Juni 2000 Wenn ein Ereignis nicht ins Schema passt Über politisch korrektes Schweigen H. Sf. Was macht ein Ereignis zur Nachricht? Glaubt man der journalistischen Handwerkslehre, so müssten Aktualität und Gewicht eines Zeitgeschehens dafür sorgen, dass die Medien ihrer Chronistenpflicht nachkommen. Wie der mediale Augenschein lehrt, gilt das gewiss für die grossen Haupt- und Staatsaktionen und für spektakuläre Unglücksfälle und Verbrechen. Unterhalb dieser Aufmerksamkeitsschwelle gibt es jedoch irritierende Unterschiede in der Beachtung, die selbst Ereignisse von ähnlichem Zuschnitt finden. So beschäftigte zum Beispiel im Februar letzten Jahres der Tod eines jungen algerischen Asylbewerbers im brandenburgischen Guben über Wochen hinweg die Zeitungen und das Fernsehen. Die Geschichte vom Ausländer, der von barbarischen deutschen Jugendlichen durch die Stadt gehetzt wurde und sich schliesslich auf der Flucht tödliche Verletzungen zuzog, erschütterte auch durch ihre politische Botschaft: Guben bewies, wieder einmal, dass in Deutschland das unselige Nazi-Erbe auch heute noch Opfer fordert. Entsprechend genau wurde später der Prozess gegen die deutschen Täter verfolgt und zum medialen Tribunal über ein ressentimentgeladenes Milieu gemacht. Fast zur selben Zeit ereignete sich in Frankfurt ein Vorfall, bei dem auch junge Männer mit tödlichem Ausgang aneinander gerieten: Auf dem Bahnsteig des S-Bahnhofs Griesheim kam es zu einer Rempelei zwischen zwei Gruppen junger Leute. Plötzlich blitzten Messer, am Ende war ein Vierundzwanzigjähriger tot, und mehrere seiner Freunde wurden zum Teil erheblich verletzt. Diese Bluttat lieferte den Medien mit ganz wenigen Ausnahmen nur Stoff für den Lokalteil. Nicht einmal als im Prozess vor dem Frankfurter Landgericht eine bemerkenswerte Rohheit des Haupttäters und seine ruppige Verweigerung jeder Reue zutage traten, fand das Geschehen überregional Aufmerksamkeit. Dabei ging es auch hier um Ausländer und Gewalt: Allerdings waren in Frankfurt die Täter Türken und die Opfer junge Deutsche auf dem Weg zu einer multikulturellen Karnevalsfeier der Universität. Aber nicht bloss in der medialen Aufmerksamkeit zeigen sich erhebliche Unterschiede, sondern auch in der Art und Weise der Berichterstattung. So überschrieb die «Frankfurter Rundschau» am Dienstag letzter Woche ihren Bericht über das Urteil mit «Mehrjährige Haftstrafen wegen tödlicher Messerstiche in Griesheim» und setzte als Untertitel: «Sieben Jugendliche hatten 24 Jahre alten Offenbacher am S-Bahnhof umstellt; Hauptangeklagter zeigte keine Reue.» Hier wie im Text gibt es keinen Hinweis auf die ethnische Zugehörigkeit der Täter. Nur in den allerletzten fünf Zeilen ist einigermassen apokryph davon die Rede, dass der Richter «auf die soziale Benachteiligung der Griesheimer Gruppe» hingewiesen habe, «die sich als Angehörige einer ethnischen Minderheit, als <Kanaken> diskriminiert fühlten.» Während die Ausschreitungen in Guben im Medienbild überwiegend als weiteres Beispiel für deutschen Rassismus dargestellt wurden, erscheint in diesem Bericht der Frankfurter Vorfall eher als gewalttätiges Kräftemessen junger Rambos, bei dem ethnische Hintergründe allenfalls zur Entlastung der Täter angeführt werden können. Solche Erklärungsversuche gelten allerdings als unzulässig, wenn, wie in Guben, Täter- und Opferrollen anders verteilt sind. Guben und Frankfurt zeigen Fallen im Alltag der Medienpraxis, die nichts mit der aufgeregten Empörung über Fälscher und Fälschungen zu tun haben. Gerade bei gesellschaftlichen Reizthemen zählt weniger das simple «Ereignis» als vielmehr das journalistische Wahrnehmungsmuster, das die kruden Fakten erst zu einer sinnstiftenden Geschichte ordnet. Guben als weiteres Kapitel der unendlichen Geschichte von böser Ausländerfeindlichkeit lieferte den vertrauten Sinn. Was in Frankfurt geschah, hat dagegen nicht bloss den Lokalredaktor offensichtlich ratlos gemacht. Der Rückzug auf politisch korrektes Schweigen und Ausblenden ist aber ein untaugliches journalistisches Mittel, um einer ärgerlich unübersichtlichen Wirklichkeit medial beizukommen.
|