Neue Zürcher Zeitung (CH), 13. Juni 2000 Kontraproduktive Türkei-Politik der EU Hinwendung Ankaras zur USA bei ausbleibender Integration Von Lothar Rühl Die Europäische Union will die Türkei wirtschaftlich stärker an sich binden. Gleichzeitig versucht man den EU-Beitrittskandidaten auf Distanz zu halten. Der Autor, ehemaliger Staatssekretär im deutschen Verteidigungsministerium, sieht durch diese Politik die Sicherheitsinteressen Europas gefährdet und plädiert für eine wirksame Integration der Türkei, so wie sie die USA praktizieren. Die Zulassung der Türkei zum Kreis der EU- Beitrittskandidaten hat die Probleme im Verhältnis Europas zu dem zwar verbündeten, aber keineswegs befreundeten Staat offengelegt. Es bietet sich ein Bild der Widersprüche: In den diplomatischen Beziehungen scheint das Konzept einer «variablen Geometrie», anders als die bisher gepflegte selektive Kooperation, die langsame Annäherung zu fördern. Nachdem die Türkei jahrelang ein Handels- und Zahlungsbilanzdefizit mit Westeuropa ausgewiesen hatte, können nun die Vorteile der Zollunion mit der EU die türkische Wirtschaft stärken. Die politischen Beziehungen insgesamt haben sich verbessert, vor allem nachdem zwischen Athen und Ankara eine spürbare Entspannung eintrat. Auch haben Kommission, Aussenministerrat und Parlament der EU begonnen, differenzierter über die vielschichtige türkische Realität zu urteilen. Diese Korrektur im Ansatz wurde mit verursacht durch die offensichtliche Abschwächung des Kurdenkonflikts und das Einlenken der PKK seit dem Öcalan-Prozess. Unnötige Abgrenzung Andererseits werden in Westeuropa die Berührungsängste gegenüber der Türkei ganz offen zur Schau getragen. Die Parallelen zur Reaktion gegenüber Österreich nach der Regierungsneubildung liegen auf der Hand. Gerade in diesem Punkt wird die Absurdität der europäischen Haltung gegenüber Ankara offensichtlich: In dem Moment, da die EU sich anschickt, einen eigenen militärischen Beitrag zur internationalen Sicherheit und ein neues Entscheidungsverfahren für die proklamierte europäische Sicherheits- und Verteidigungspolitik zu organisieren, wird ein Trennungsstrich zum Bündnispartner Türkei gezogen. Westeuropa, das über die Bündnisgrenzen hinaus gern Konflikte schon im Entstehen eindämmen und so Krisen beherrschen möchte, schottet sich an der Südostflanke gegenüber der Türkei ab, obwohl diese den Flankenschutz gegenüber dem Kaukasus, dem Balkan und der Levante geben könnte. In Deutschland geht die Realitätsverweigerung so weit, der verbündeten türkischen Armee weitere Lizenzen für den Bau des Kampfpanzers «Leopard» zu verweigern. Dies war 1999 in Berlin so vorentschieden worden. Nach dem Golfkrieg von 1991 hatte man noch dem amerikanischen Drängen nachgegeben und trotz «Defiziten» bei den Menschenrechten Schützenpanzer aus den Beständen der Nationalen Volksarmee der DDR kostenlos in die Türkei geliefert. Diese Panzer sind zum Einsatz gegen Partisanen in Südostanatolien noch besser geeignet als die etwa 400 deutschen «Leopard I»-Panzer oder die knapp 1000 amerikanischen M-60 «Abrams» des türkischen Heeres. Deutsche Kurzsichtigkeit Wie um die Absurdität der Verweigerung zu krönen, bezeichnet der deutsche Aussenminister Fischer die Türkei als «strategischen Partner». Er empfiehlt die Aufnahme in die EU, obwohl die Türkei nur teilweise in Europa liegt und bestenfalls als ein eurasisches Land angesehen werden kann. Wenn aber in absehbarer Zukunft die Südostgrenze Europas an Euphrat und Tigris gezogen wird sowie fast am Kaspischen Meer, wenn ausserdem das Schwarze Meer als europäisches Seegebiet wie die Ägäis behandelt werden sollte, läge es im vitalen Interesse der EU wie der Nato, die Türkei fest an Westeuropa zu binden. Sie sollte an der europäischen Sicherheits- und Verteidigungspolitik beteiligt werden. Diese Überlegungen müssten neben der Nato-Mitgliedschaft das Kriterium für Waffenexport in die Türkei sein, nicht die subjektiven Ansichten über die inneren Verhältnisse. Die westeuropäischen Sicherheitsinteressen im Südosten zu ignorieren, bedeutet eine grössere Abhängigkeit von den USA. Die Türkei wird fortan ihre regionalpolitischen Interessen gegenüber dem Irak, Syrien, Israel oder Zentralasien nur mit Washington abstimmen, nicht aber mit Brüssel oder mit Berlin. Diese Einsicht ist der Grund für die Zurückhaltung in London, Paris und Rom bei der Kritik an den inneren Verhältnissen in der Türkei. Dort nimmt man Rücksicht auf die türkische Wünsche nach Waffen. «Leclerc»-Panzer aus Frankreich und «Challenger»-Panzer aus England werden in Konkurrenz zum deutschen «Leopard II» und zum amerikanischen «Abrams» (der das Rennen mangels deutscher Lieferbereitschaft machen dürfte) offeriert. Die amerikanische Verärgerung über die Europäer in dieser strategischen Frage ist Jahre alt. Jüngst bestätigte dies der amerikanische Verteidigungsminister Cohen in einer Rede an die Alliierten in München. Darin forderte er, alle europäischen Nato-Partner, die der EU nicht angehören, seien gleichberechtigt und gleichwertig an den sicherheits- und verteidigungspolitischen Entscheidungen zu beteiligen. Es war unüberhörbar, wen der Amerikaner meinte: die Türkei. Amerikanischer Pragmatismus Richard Holbrookes Formulierung von 1994, die Türkei sei Amerikas strategischer Verbündeter an allen drei Krisenfronten Golf, Kaukasus und Balkan, von gleicher Bedeutung wie Deutschland in Europa, gilt für jede Administration seit den fünfziger Jahren. Ein halbes Jahrhundert amerikanischer Prioritätensetzung, basierend auf geopolitisch-strategischen Grunddaten, hat eine Konstante der Aussenpolitik Washingtons geschaffen: Amerika hat an der Türkei ein vitales Interesse. Es wird zum gemeinsamen Vorteil die Türkei weiter aufrüsten und auf Athen wie Ankara einwirken, Kompromisse zu finden. Es wird seinen Druck auf Brüssel verstärken, um die Annäherung der Türkei an die EU zu fördern. Durch Konfrontation und rhetorische Anklagen der Menschenrechtspraxis in der Türkei wird die EU das Problem nicht lösen können. Die Situation der Menschenrechte wird in der Türkei, in Ägypten, in Iran oder in Syrien nicht verbessert, indem man diese Länder isoliert. Die Türkei aber liegt zwischen dem Kaukasus, Russland, Iran, dem Nahen Osten und Europa. Die strategische Allianz zwischen Israel und der Türkei bestimmt die Sicherheitsbedingungen in der Region. Die Türkei reguliert indirekt den Zufluss von Wasser über den Yarmuk aus Syrien in den Jordan und nach Mesopotamien. Es kann also weder eine europäische «Entwicklungspolitik» für Palästina und Jordanien noch eine europäische «Nahostpolitik» oder «Mittelmeerpolitik» mit arabischen Ländern, geschweige denn eine «Schwarzmeerpolitik» und insgesamt eine umfassende «Orientpolitik» der EU ohne, aber noch weniger gegen die Türkei geben. Dies gilt auch für die einzelnen EU-Mitglied-Staaten. Das langfristige politische Risiko Europas gegenüber der Türkei und dem Orient liegt in der Marginalisierung, im Relevanzverlust Europas. Dies ist der Preis der Ausgrenzungspolitik, mit Folgen weit über die Grenzen Europas und über das Verhältnis zur Türkei hinaus. Die Stellung Europas im Bündnis wird damit geschwächt. Auch die internationale Bedeutung der EU in Krisen und Konflikten als handlungsfähige Gemeinschaft würde leiden. Ohne Beteiligung der Türkei hätten die Europäer keine Basis in Reichweite zu möglichen Krisenschauplätzen ausserhalb Europas. Die EU ist dafür von der Türkei ungleich abhängiger, als die See- und Luftmacht USA es ist, obwohl auch diese sich auf die Türkei abstützen muss. Dies ist die strategische Realität der Nato an der südlichen Peripherie Europas.
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