Frankfurter Rundschau, 16.06.2000 IM HINTERGRUND Wohin mit den Dorfwächtern? Nach Ende des Kurdenkriegs steht Ankara vor Problemen Von Gerd Höhler (Athen) Nicht zuletzt ihnen verdankt die türkische Regierung den Sieg im Kurdenkrieg: Die etwa 95 000 so genannten Dorfwächter, eine staatlich besoldete Miliz, halfen mit, die Rebellen der kurdischen Arbeiterpartei PKK aus der Südosttürkei zu vertreiben. Was soll nun aus den Dorfwächtern werden? Nur noch etwa 500 versprengte PKK-Kämpfer werden in der Südosttürkei vermutet. Weitere 5000, so schätzen die Sicherheitsbehörden, haben sich nach Nordirak, Iran oder Syrien zurückgezogen und stellen keine unmittelbare Bedrohung mehr dar. Früher oder später, so glaubt man in Ankara, wird sich der militärische Arm der PKK von selbst auflösen. Von der Dorfwächter-Armee ist das leider nicht zu erwarten. Diese in den letzten zehn Jahren aufgebaute Streitmacht regierungstreuer Kurden zu entwaffnen dürfte erhebliche Schwierigkeiten bereiten. Viele hunderttausend Menschen in der Region leben von ihren Gehältern; rund 230 Mark beträgt der monatliche Sold. Das ist relativ viel Geld in der verarmten Kurdenregion, wo das jährliche Pro-Kopf-Einkommen mit 3363 Mark nur bei der Hälfte des Landesdurchschnitts liegt. Viele Dorfwächter haben es verstanden, ihr Einkommen aufzubessern. Sie bereichern sich mit Schmuggel, Drogenhandel und Schutzgeld-Erpressungen. Nun beratschlagen die Politiker in Ankara, wie die Dorfwächter-Armee, deren Unterhalt den Staat pro Monat rund 25 Millionen Mark kostet, abgerüstet werden könnte. Die wenigsten Milizionäre dürften ihre Waffen abliefern. Unrealistisch wäre es wohl auch, einfach die Zahlungen einzustellen und die Dorfwächterfamilien ihrem Schicksal zu überlassen. Eine Überlegung geht dahin, Dorfwächter, die über 55 Jahre alt sind, mit einer Rente in den Vorruhestand zu schicken. Jüngere Milizionäre, so heißt es, könnten in der Landwirtschaft oder bei Sicherheitsunternehmen unterkommen. Aber die Wirtschaft in der Kurdenregion ist nach 15 Jahren Kurdenkrieg weitgehend zerschlagen. Die Landwirtschaft liegt brach, private Investoren fehlen und die immer wieder versprochene staatliche Wirtschaftshilfe bleibt aus. Nach einer Studie der Unicef liegt die Säuglingssterblichkeit in der Ost-Provinz Erzurum beim Fünffachen des Landesdurchschnitts. Nahezu 45 Prozent der Familien in Erzurum leben unter der Armutsgrenze, über 40 Prozent der Frauen sind Analphabeten. Ähnlich sind die Verhältnisse auch in den anderen Ost- und Südostprovinzen. In Ankara gibt sich Ministerpräsident Bülent Ecevit zerknirscht. Im letzten Jahr habe er sich "leider nicht" mit Reformen in der Ost- und Südosttürkei beschäftigen können. Aber der Ministerpräsident tröstet seine verarmten Landsleute: "Wenn Allah mir Kraft und ein langes Leben gibt, will ich einen Großteil der zweiten Hälfte dieses Jahres darauf verwenden."
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