Frankfurter Rundschau, 21.6.2000 "Im Wirrwarr der Bestimmungen haben es Menschenschmuggler leichter" EU-Kommissar und Europa-Parlamentarier fordern nach Flüchtlingstragödie gemeinsame Asylpolitik / Einigung ist aber nicht in Sicht Angesichts der Flüchtlingstragödie von Dover hat der für Justiz und Inneres zuständige EU-Kommissar Antonio Vitorino die Forderung nach einem gemeinsamen Vorgehen der 15 Mitgliedsländer der Union bekräftigt. Auch aus den Reihen des Europäischen Parlaments wurde dies angemahnt. BRÜSSEL, 20. Juni (dpa/afp/fr). "Diese Ereignisse zeigen die Notwendigkeit, möglichst rasch eine einheitliche EU-Einwanderungs- und Asylpolitik zu entwickeln", sagte EU-Kommissar Vitorino am Dienstag in Brüssel. Die Behandlung dieser sensiblen und komplexen Fragen ginge weit über nationale Zuständigkeiten hinaus. Vitorino drückte im Namen der Kommission sein tiefes Bedauern über den Tod von 58 chinesischen Flüchtlingen aus, die im britischen Fährhafen Dover entdeckt worden waren. Letztlich müssten in Partnerschaft mit den Herkunftsländern dort Lebensbedingungen geschaffen werden, die es den Menschen ermöglichen, in der Heimat zu bleiben und nicht illegal auszuwandern. Die Debatte, die dieser tragische Fall ausgelöst habe, zeige eindeutig, wie überfordert Großbritannien mit seinem nationalen Weg sei, sagte der Grüne Ozan Ceyhun, Mitglied im Innenausschuss des Parlaments. Ein härteres Vorgehen der Polizei gegen Menschenschmuggler reiche jedoch nicht aus. "Es ist höchste Zeit, dass die Mitgliedstaaten der Europäischen Union ernsthaft und zügig an eine gemeinsame Einwanderungs- und Asylpolitik herangehen", sagte er. Sabina Mazzi, beim Ausschuss für Bürgerfreiheiten des Europaparlaments für Einwanderungsfragen zuständig, ist der Ansicht, dass "es Menschenschmuggler besonders leicht haben", solange sich die Unionsländer nicht auf ein Vorgehen einigen. Derzeit seien die Kriterien und Vorschriften für die Aufnahme von Flüchtlingen in den Unionsländern sehr unterschiedlich. Und genau das werde von Schleusern ausgenutzt. "Je größer das Wirrwarr an Bestimmungen und Regeln ist, desto leichter können skrupellose Mafia-Banden Flüchtlings-Kandidaten überreden, sich auf teure und gefährliche Abenteuer einzulassen", sagte Mazzi. Die EU-Volksvertretung fordert daher schon lange ein EU-weites Asyl- und Einwanderungsrecht. Darin sollten Kriterien für die Aufnahme, das Asylverfahren und die etwaige Abschiebung von abgewiesenen Bewerbern genau verankert sein, heißt es im jüngsten Entschließungsantrag zum Thema Asyl, den die Straßburger Versammlung in der vergangenen Woche verabschiedet hat. Noch ist aber eine solche Richtlinie nicht in Sicht. Zwar wurde die Einwanderungspolitik durch den im Mai 1999 in Kraft getretenen Amsterdamer Vertrag in die Zuständigkeit der EU verlagert - doch zeigen die Unionsländer bisher wenig Bereitschaft, ihre diesbezüglichen Zuständigkeiten an Brüssel abzugeben. "Bis heute gibt es noch keinen einzigen Richtlinienvorschlag für eine EU-Einwanderungspolitik", kritisierte am Montag die französische Grüne Alima Boumediene. Die EU vereinbarte mit sechs Herkunftsländern - Albanien, Afghanistan, Marokko, Irak, Somalia und Sri Lanka - so genannte "Aktionspläne" zur Bekämpfung der illegalen Einwanderung. Ein Ziel dieser Pläne ist es, Menschen in den Herkunftsländern vor kriminellen Schleppern zu warnen. "Meist arbeiten in diesen Banden Schlepper aus den Ursprungsländern mit Komplizen aus den Zielländern eng zusammen", sagt Mazzi. Zu den attraktivsten Zielen für Flüchtlinge gehören Großbritannien und die Bundesrepublik. In den ersten vier Monaten dieses Jahres wurden in Großbritannien rund 20 Prozent aller Asylanträge in Europa gestellt. Nach Angaben des UN-Flüchtlingskommissariats sind die tatsächlichen Zahlen in Großbritannien um 30 Prozent höher, da London im Gegensatz zu den übrigen EU-Staaten die Zahl der Asylanträge verzeichnet und nicht die Zahl der einzelnen Asylbewerber.
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