junge Welt, 20.06.2000 Tote von Dover stören Gipfelidylle Flüchtlingsdrama brachte EU-Treffen von Feira in arge Bedrängnis. Von Hans Ulrich Es hätte alles so reibungslos laufen können: Die EU-Oberen stellen sich zum Gruppenbild auf, lächeln in die Kameras und beglückwünschen sich gegenseitig zum guten Fortgang der europäischen Integration. Nur leider begann das Treffen der Staats- und Regierungschefs der Europäischen Union am Montag im portugiesischen Feira mit einer Nachricht, die die Gesichter starr wirken ließ: Im englischen Dover fand die britische Polizei am frühen Morgen im Laderaum eines Lastwagens 58 Leichen. Bei den Toten handelte es sich offensichtlich um Asylsuchende aus Asien, die illegal nach Großbritannien einreisen wollten. Die Polizei hatte die Menschen - nur zwei überlebten den Transport - bei einer Routinekontrolle im Container eines in den Niederlanden zugelassenen LKW entdeckt. Sie waren darin vermutlich erstickt. »Mit Entsetzen« habe die Politikerrunde auf die Nachricht reagiert, hieß es aus Feira. EU-Kommissionssprecher Jonathan Faull kündigte gar eine gemeinsame Erklärung der Gipfelteilnehmer zu dem Vorfall an. Bundeskanzler Gerhard Schröder, der französische Präsident Jacques Chirac sowie der britische Premierminister Tony Blair hätten bei ihren jeweiligen Frühstückstreffen »Trauer« und »Gefühle des Horrors über die Unmenschlichkeit des Dramas« geäußert, wie ihre Sprecher mitteilten. Nur geht das »Drama« nicht zuletzt auf die Festungsmentalität in der EU zurück. Erst vergangenen Donnerstag wurde in den beteiligten Gemeinschaftsstaaten das 15jährige Bestehen des Schengener Abkommens gefeiert. Mit diesem Vertrag fielen zwar die Grenzkontrollen zwischen zwei Dritteln der EU-Mitglieder, und der »freie Personenverkehr« kam voran. Zugleich aber wurden die EU-Außengrenzen noch undurchdringlicher gemacht, die Asylregelungen verschärft und das gemeinsame Vorgehen gegen unliebsame Ausländer koordiniert. Den vor Dover erstickten Asiaten, die am Montag nachmittag bereits von einigen Agenturen ls »Wirtschaftsflüchtlinge« abgestempelt wurden, wäre ein legales Asyl in der EU mit einiger Sicherheit verweigert worden. Daß die EU einige Schwierigkeiten mit »Nicht- Unionsbürgern« hat, zeigt sich auch bei den Verhandlungen über die Ost-Erweiterung, die in Feira mit auf der Tagesordnung steht. Vor wenigen Tagen wurden mit den sechs am weitesten fortgeschrittenen Beitrittskandidaten die letzten Verhandlungskapitel eröffnet. Allerdings seien diese die kompliziertesten, hieß es aus Brüssel - neben der Agrarpolitik werden nun auch die Fragen der Sicherung der EU-Ostgrenze und die Freizügigkeit von »Arbeitnehmern« diskutiert. Selbst wenn Polen, Tschechien oder Ungarn in einigen Jahren zur Union gehören sollten, haben einige Alt-Mitglieder mit einer heraufbeschworenen »massiven Zuwanderung« aus diesen Ländern ihre Probleme. Jährlich 335 000 Immigranten würden dann in die alten EU-Länder drängen, schürte Brüssel die Ängste; Berlin befürchtet, daß 220 000 davon in Deutschland bleiben könnten. Inzwischen kündigte EU-Kommissionssprecher Faull an, Brüssel werde bis Ende des Jahres Vorschläge zur Angleichung der Asyl- und Einwanderungspolitik vorlegen. Angesicht des eingemauerten Europa-Clubs kann dies wohl nur als Drohung verstanden werden.
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