Frankfurter Allgemeine Zeitung, 19.6.2000

IN DEN FLUTEN DES EUPHRAT VERSUNKEN

Das antike Zeugma wird nicht das letzte Opfer der Staudämme im Südosten der Türkei sein

Im Juni: "Ich saß am Euphrat und sann." Heute könnte der griechische Denker und Rhetoriker Lukianos, geboren zwischen 115 und 125 nach Christus in Samosata am mittleren Euphrat, seine Diskurse und Dialoge nicht mehr mit diesen Worten einleiten. Seine Geburtsstadt liegt bereits vierzig Meter unter dem Wasser des Atatürk-Stausees. Und in zwei Jahren, wenn auch das Karkemis-Staubecken mit Wasser gefüllt ist, wird der altehrwürdige Strom von seiner Quelle bis an die Grenze zu Syrien nur noch an wenigen Stellen zu sehen sein. Auch der Tigris wird in eine Seenplatte verwandelt, Dämme werden entstehen an den Zuflüssen beider Ströme. Sie sollen den Schlamm zurückzuhalten, der die großen Staudämme sonst füllen würde.

Dämme werden aber nicht nur an Euphrat und Tigris gebaut. In der gesamten Türkei sind 105 in Bau, für weitere 45 wird die Finanzierung geplant, und über hundert neue entstehen auf den Reißbrettern der Planer. Jeder dieser Dämme bedroht archäologische Stätten. Am stärksten betroffen ist jedoch die Region, in der die Tiefebene Mesopotamiens an das südostanatolische Taurusmassiv stößt, durch das nur wenige Wege ins Hochland Anatoliens führen. Hier haben sich entlang der Flüsse und Hochterrassen die frühesten Siedler niedergelassen. "Werden die Flusstäler zu Seen überschwemmt wird die gesamte Vergangenheit ausgelöscht, die diese Flüsse über Jahrtausende hervorgebracht haben", klagt Mehmet Özdogan, Professor für prähistorische Archäologie an der Universität Istanbul. Daher, so die düstere Prognose des Wissenschaftlers, werden im Südosten der Türkei, der archäologisch bisher kaum erforscht ist, und in der Harranebene bei Urfa in wenigen Jahren nur noch wenige archäologische Stätten vorhanden und zugänglich sein, werden nur noch wenige Plätze Auskunft über die Entstehung der Zivilisation in Anatolien und im oberen Mesopotamien geben können. "Dabei gilt gerade dieses Übergangsland von Mesopotamien nach Anatolien als Schlüsselregion für die Wiege der Zivilisation", sagt Harald Hauptmann, der Direktor des Deutschen Archäologischen Instituts in Istanbul. Denn entlang von Euphrat und Tigris seien die Kulturen und großen Imperien des Ostens und des Westens - die Hethiter und Hurriter, die Griechen und Achämeniden, die Reiche Roms und Parthiens, der Byzantiner und der Araber - immer wieder aufeinander gestoßen.

Was heute zerstörerisch wirkt, war zunächst hilfreich. Dem 1965 begonnenen "Südostanatolien-Projekt" (GAP) mit seinen 22 großen Dammbauten und 19 Wasserkraftwerken ist zu verdanken, daß die Archäologen ihre Erkenntnisse über die Seßhaftwerdung des Menschen revidiert haben. Lange hatten sie ihr Augenmerk auf Mesopotamien gerichtet. Heute geht die Wissenschaft davon aus, daß das Übergangsland zwischen Anatolien und Mesopotamien für die frühen Dorfgemeinschaften des Menschen wichtiger war als die Tiefebenen Mesopotamiens, die erst in der Zeit der Staatenbildung der Sumerer im vierten und dritten Jahrtausend vor Christus an Bedeutung gewannen.

Als beispielhaft für die internationale Zusammenarbeit von Archäologen würdigt Hauptmann das erste Rettungsprojekt für den Keban-Damm. 1967 hatte es mit einer archäologischen Landeserfassung begonnen, 1975 endete es mit der Überschwemmung des Flußtals. Dieses Projekt gab der türkischen Archäologie einen Modernitätsschub, erstmals arbeiteten Wissenschaftler vieler Länder auch bei Grabungen interdisziplinär zusammen. Die Rettungsaktion kam aber zu spät. "Was gerettet wurde, ist eindrucksvoll, was aber ohne jegliche Dokumentation verloren wurde, viel dramatischer", sagt Özdogan. Von den 63 erfassten Stätten sind nur wenige - wie der vom Deutschen Archäologischen Institut ausgegrabene Norsuntepe - für das Chalkolithikum, die Bronze- und die Eisenzeit ausreichend untersucht worden, 44 wurden nicht einmal angetastet.

Noch weniger erfolgreich war das nächste Rettungsprojekt für die Dämme Karakaya und Atatürk, das 1978 auf der Grundlage einer archäologischen Landeserfassung durch Özdogan anlief und bei dern Hauptmann die spektakuläre frühe neolithische Siedlung Nevali Cori in der Provinz Urfa ausgrub, Bereits die Containerstadt des Konsortiums, das den Atatürk-Damm baute, wurde auf einer der wenigen paläolithischen Freilandstationen der gesamten Region errichtet, und unter den 872 Quadratkilometern des Sees verschwanden unter anderem acht römische Aquädukte, drei große mittelalterliche Festungen und eine Karawanserei. Von den über 580 archäologischen Stätten im Einzugsgebiet beider Dämme konnten lediglich neunzehn teilweise untersucht werden, unter ihnen das antike Samosata, das als Sumaisat auch in arabischer und seldschukischer Zeit Bedeutung hatte. Neun Jahre haben türkische Archäologen in Samosata gegraben, das von der Frühzeit bis zur Zerstörung durch die Mongolen eine bedeutende Stadt war: im vierten Jahrtausend ein möglicher Außenposten der südmesopotamischen Jruk-Kultur, mal Kummuhu genannter Hauptort der späten Hethiter mal Hauptstadt des Königreichs Kommagene. Untersuchen konnten die Archäologen aber nur einen Ausschnitt der Jahrtausende währenden Besiedlungsgeschichte. Samosata verschwand 1987 in den Fluten des Stausees.

Die nächste historische Stätte, die unter dem Wasser eines Stausees versinken wird, ist Zeugma, die Stelle, an der Alexander der Große 331 vor Christus auf seinem Weg ins Achämenidenreich über den Euphrat setzte. Das gab dem Ort seinen griechischen Namen: Verbindung zu sein und Brücke. Seleukos I, Nikator, einer der Generäle Alexanders, gründete 300 vor Christus an dieser Stelle zu beiden Seiten des Euphrat die Doppelstadt Seleukeia und Apameia. Der türkische Staatspräsident Ahmet Necdet Sezer hatte angeordnet, den Abfluss aus dem höher gelegenen Atatürk-Damm zehn Tage einzustellen, um den Archäologen eine allerletzte Chance zu geben. Die Frist endete am Freitag vergangener Woche. Die Unterbrechung kostete den türkischen Staat durch den Ausfall der Stromproduktion zehn Millionen Dollar. Wäre ein Bruchteil der Summe der Archäologie zur Verfügung gestellt geworden, Zeugma hätte gerettet werden können. Seit 35 Jahren ist der Plan des Staudamms bei Birecik bekannt, begonnen haben die Ausgrabungen in Zeugma aber erst 1993. Schweizer untersuchen das römische Legionslager, und der türkische Archäologe Mehmet Önal hat in sieben Jahren an fünf Stellen gegraben. Zunächst legte er einfache Häuser frei, dann Handels- und offizielle Gebäude, in denen er Mosaike fand. Schließlich stieß er 1998 in einem Gebäude der Zollverwaltung auf die größte erhaltene Sammlung von Siegeln überhaupt. Hätte er an weiteren Stellen gegraben, wäre die Zahl leicht von 65 000 auf eine Million gestiegen, sagt Önal. Ein Hinweis für den regen Handel Zeugmas, das im Mittelalter Station der Seidenstraße war auf dem Euphrat in dem Samosata Lukians und den großen Zentren Syriens. Erst vor acht Monaten untersuchte Önal ein Viertel mit Villen reicher Kaufleute. Die größte von ihnen hat zwei Peristyle. Dort fand Önal fünfzehn prächtige Mosaiken, Wandfresken mit Pflanzen- und Tiermotiven sowie eine Darstellung der Penelope, 3750 hellenistisch-römische Münzen und eine 1,55 Meter hohe Bronzestatue des Kriegsgotts Mars; all diese Funde sind jetzt im Museum in Gaziantep. In Zeugma sollen einst 70 000 Menschen gelebt haben, die Stadt bedeckte allein auf dem westlichen Ufer etwa zwanzig Hektar. Weniger als ein Fünftel werde von dem Wasser des 62 Meter hohen Birecik-Staudamms bedeckt werden, sagt Önal. Noch völlig unerforscht ist der obere Teil von Zeugma, wo bisher nur eine römische Villa ausgegraben wurde. Önal vermutet dort weitere Villenkomplexe, Bäder, Tempel, eine Agora-und-Kolonnaden-Straße. Bis Ende Juni sieht er seinen jetzigen Arbeitsplatz und 26 weitere archäologische Stätten unter dem Wasser verschwinden. Bis dahin will er noch drei Mosaiken und ein Peristyl mit einem Brunnen retten, das beim Museum in Gaziantep wieder aufgebaut werden soll. Danach will er "weiter oben graben" wo die Stadt noch unter der Erde ruht und wo er noch viele weitere außergewöhnliche Fundstücke erwartet. Eines Tages, so hofft er, werde zumindest dieser Teil ein Freilichtmuseum sein. Nicht viel besser ist die Lage am Karkemis-Damm weiter im Süden. Dort werden im Jahr 2002 alle 48 archäologischen Stätten überflutet sein, die meisten der acht Grabungen haben erst im vergangenen Jahr begonnen. Für Birecik könne nichts mehr getan werden, für Karkemis nur sehr wenig. Aber bis zur Überflutung des Ilisu-Damms, der nach dem Atatürk-Damm der zweitgrößte der Türkei werde und abermals fünfzig archäologische Stätten bedrohe, habe man noch mindestens sieben Jahre Zeit, sagt Özdogan. Viele bedeutende Stätten könnten seiner Meinung nach aber gerettet werden, ohne den Prozess der Modernisierung zu beeinträchtigen. Dazu aber müßten Archäologen vom Planungsbeginn an eingeschaltet und die Pläne gegebenenfalls modifiziert werden. Wäre der Birecik-Damm nur drei Kilometer flußaufwärts gebaut worden, müßte Zeugma beispielsweise nicht überflutet werden. Immer war aber erst der Baubeginn des Damms der Startschuß für die Grabungen. Özdogan macht dafür Geldmangel verantwortich, aber auch das lange Genehmigungsverfahren der türkischen Antikenverwaltung. Nur bei 25 der 298 Staudammprojekte, die in der Türkei mit der Überflutung abgeschlossen wurden oder noch in Planung sind, hat eine archäologische Erkundung stattgefunden. Koordinierte Rettungsakionen fanden nur bei fünf von ihnen statt. Ohne eine internationale Organisation, die koordinierend und beratend die Rettungsaktionen begleitet, wird, so Özdogan, das gemeinsame kulturelle Erbe für immer verloren sein. "Und wir merken nicht einmal, was wir alles verlieren."

RAINER HERMANN