Tagblatt (CH), 22.6.2000 Herausforderung für die türkische Armee Ein halbes Jahr nach der Anerkennung der Türkei als EU-Beitrittskandidat regt sich in der Armee Widerstand gegen damit verbundene Reformen. Das Aussenministerium seinerseits stellt sich gegen die Armee. Jan Keetman/Istanbul Es geht um zwei Punkte. Der erste ist die Abschaffung der Todesstrafe. Dazu erklärte der Oberbefehlshaber, General Kivrikoglu, gestern gegenüber der Zeitung «Milliyet»: «Die Armee ist nicht gegen eine Abschaffung der Todesstrafe.» Der zweite Punkt betrifft den Nationalen Sicherheitsrat. Dieser tagt unter dem Vorsitz des Staatschefs und setzt sich aus einigen Ministern und den Spitzen der Generalität zusammen. In der Verfassung hat er nur den Rang eines beratenden Gremiums, in der Praxis aber bestimmt er viele Richtlinien der türkischen Politik. Die Generäle haben nun eingewilligt, ihren Einfluss im Nationalen Sicherheitsrat zu reduzieren, indem sie der Aufnahme weiterer Zivilisten als Mitglieder zustimmen. Vehement wehren sich die Generäle jedoch dagegen, den Kurden den Status einer nationalen Minderheit einzuräumen. «Eine andere Rasse, Kultur, Religion und Sprache zu haben, bedeutet noch nicht, einer nationalen Minderheit anzugehören», heisst es in einem Bericht des Sekretariats des Sicherheitsrats. Die Wünsche der EU seien «übertrieben und ungerechtfertigt. Man will, dass die Türkei weiter geht als die Länder der EU selbst.» Im Aussenministerium aber sieht man das ganz anders. Es verfasste seinerseits einen Bericht, der genau umgekehrt empfiehlt, unterschiedliche Traditionen zu schützen und allen Bürgern Unterricht und Publikation in ihrer Muttersprache zuzugestehen. Über sein Ministerium stellt sich Aussenminister Ismail Cem damit nicht nur gegen die Armee, sondern auch gegen Ministerpräsident Ecevit, der beim Minderheitenproblem zurückhaltend ist.
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