Bremer Nachrichten, 23.6.2000 Türkei: Ein Paradies für Menschenhändler Ungebrochener Flüchtlings-Strom nach EU-Europa Von unserer Korrespondentin Susanne Güsten Istanbul. Am Maritza entscheiden sich jedes Jahr tausende von Schicksalen. Der Fluss, der die Grenze zwischen Griechenland und dem europäischen Teil der Türkei bildet, ist ein kritischer Punkt auf der verzweifelten Reise vieler Flüchtlinge aus dem Nahen Osten und Asien, die nach Europa wollen: Die Türkei, die im Osten unter anderem an Iran und Irak und im Westen an die Europäische Union grenzt, ist ein wichtiges Transitland im internationalen Menschenhandel. Das Geschäft der Schlepper blüht: Der schreckliche Tod von 58 Menschen, die am Montag tot in einem Lastwagen in der englischen Hafenstadt Dover gefunden wurden, wirft ein Schlaglicht auf den ungebrochenen Strom von Flüchtlingen, die auf der Suche nach einem besseren Leben für sich und ihre Kinder die Heimat verlassen und dabei oft den Tod finden. Die Türkei dient nicht nur wegen ihrer Lage zwischen Ost und West als Brücke für die Menschenhändler und ihre Opfer, sondern auch wegen ihrer schieren Größe: Sie verfügt über mehr als 2000 Kilometer Landgrenze in vielerorts schwer zugänglichen Regionen und über eine mehr als 7000 Kilometer lange Küstenlinie. Diese Grenzen sind kaum zuverlässig zu überwachen. Im Schatten des Berges Ararat im äußersten Osten des Landes beginnt für viele Flüchtlinge der Aufenthalt in der Türkei - der, wie sie hoffen, letzten Station vor der Ankunft in der EU. Erst im Mai wurden in der Nähe der Stadt Dogubeyazit in der Ararat-Region neun Menschen getötet, als 153 Flüchtlinge beim illegalen Grenzübertritt von türkischen Sicherheitskräften erwischt wurden und die Schleuser das Feuer eröffneten. Solche blutigen Auseinandersetzungen sind zwar selten, die Festnahmen von Flüchtlingen durch türkische Sicherheitskräfte indes nicht. Entgehen die Flüchtlinge den türkischen Fahndern im Osten des Landes, werden sie von ihren Schleusern ins rund 1500 Kilometer weiter westlich gelegene Istanbul gebracht. Dann bringen die Schlepperbanden sie zum Maritza: Für 500 Dollar versprechen die Schleuser den Transport bis zum Fluss selbst, für 1000 Dollar garantieren sie die Ankunft auf griechischem Boden. Doch auch hier liegt die türkische Gendarmerie auf der Lauer. Ende Mai etwa wurden am Maritza 133 Iraner, Marokkaner, Palästinenser und andere Flüchtlinge mit ihrem türkischen Schlepper gefasst. Niemand weiß, wie vielen die Flucht gelingt. Doch auch, wenn der Maritza bei den Menschenhändlern einer der beliebtesten Übergangspunkte von Ost nach West ist - der einzige ist er beileibe nicht. Viele Flüchtlinge versuchen, auf dem Seeweg EU-Territorium am Mittelmeer zu erreichen. Vor wenigen Tagen nahm die türkische Polizei in einem Dorf an der Südküste nahe der Touristenhochburg Antalya 210 Flüchtlinge fest: Das Schiff, das sie nach Italien bringen sollte, war in dem Dorf vor Anker gegangen, weil an Bord die Nahrungsmittel ausgegangen waren. Doch nicht nur Ausländer aus Asien und Afrika wollen aus der Türkei nach Westen fliehen - auch viele türkische Staatsbürger selbst, darunter tausende Kurden, suchen das Weite. Allein im Landkreis Pazarcikti im Südosten des Landes setzten sich türkischen Presseberichten zufolge in den vergangenen Jahren 70 Prozent der ehemals 100000 Einwohner in den Westen ab. Im Vergleich zu den illegalen ausländischen Flüchtlingen, die das Land als Sprungbrett nach Europa nutzen, haben die türkischen Flüchtlinge einen großen Vorteil: Sie können als türkische Staatsbürger ganz legal in einige Staaten reisen, die noch näher am Westen liegen als die Türkei selbst. Viele von ihnen fahren deshalb als Touristen nach Bosnien-Herzegowina, schlagen sich von dort aus nach Albanien durch und versuchen, ein Schiff nach Italien zu erwischen. Den Traum von Europa kann man auf viele verschiedene Arten träumen.
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