Neue Zürcher Zeitung, 24. Juni 2000 Leiser Abschied von den «Schurkenstaaten» Es brauchte ein Gipfeltreffen auf der koreanischen Halbinsel, um aussenpolitischer Korrektheit den endgültigen Durchbruch zu verschaffen. Ohne viel Aufhebens stellte die amerikanische Staatssekretärin Albright diese Woche den anstössigen Begriff «Schurkenstaaten» ausser Dienst - offenbar kurz nachdem sie das Titelblatt des «Economist» mit Kim Jong Il gesehen hatte, der mit freundlicher Miene die Erdenbewohner begrüsst, so als ob er eben erst auf dem Planeten gelandet wäre. Zweifel hatte es zwar immer gegeben, ob die Bezeichnung «Schurken» für Phänomene wie Libyen, Iran, den Irak oder Nordkorea, für Syrien, den Sudan oder Kuba je glücklich gewählt und ob eine solche Katalogisierung überhaupt zweckdienlich war. Abgebrühte Europäer schrieben die Wortwahl dem amerikanischen Hang zur manichäischen Betrachtung der Welt zu. Nun können sie aufatmen - oder doch nicht ganz? Es ist noch nicht allzu lange her, da hatte Präsident Reagan vom «Reich des Bösen» gesprochen und die Sowjetunion gemeint. Von Experten aller Art war er weitherum als Einfaltspinsel hingestellt worden, und die Einsichtslosigkeit gegenüber seiner Aussage dauerte so lange, bis sich zeigte, dass Reagan Recht und sein Anliegen Erfolg hatte. Nichts ist erfolgreicher als der Erfolg: Die Administration Clinton übernahm Reagans Rezept der rhetorischen Brandmarkung und erfand die «Schurkenstaaten». Vergessen war, dass der alte Schauspieler mehr als nur Worte im Köcher gehabt hatte, sein Sinn für das historische Timing ungetrübt war und der Kalte Krieg für zielgerichtete Schwarzweissmalerei ein besseres Klima abgab. Seinen Nachahmern ging das Verständnis für solche Elemente der grossen Politik ab. Nun sind die «Schurken» also netter geworden. Sie können damit auch nicht mehr so einfach als Begründung für die Finanzierung wichtiger Projekte im strategischen Bereich herhalten. Ihr neuer Status «States of Concern», mit dem sie jetzt etikettiert und zugleich verbal resozialisiert werden, spricht Bände: Sie sind nicht mehr «outcasts» und gefährlich, sondern zu Pflegefällen geworden, die Besorgnis erregen und deshalb betreut werden müssen. Man könnte über diese analytische Beflissenheit hinwegsehen, wenn sie nicht eine Neigung zur Verharmlosung nach sich zöge und es nicht um Amerika ginge, die «unentbehrliche Nation», um eine andere Wortprägung der ambitiösen Aussenministerin zu verwenden. Das Protzen mit amerikanischer Unentbehrlichkeit ist unklug und sicher kontraproduktiv; es generiert unnötig Widerstand. Dennoch trifft die Äusserung den Nagel auf den Kopf. Wenn es darum geht, etwas gegen «Schurken» konkret zu unternehmen, gibt es niemanden sonst. Immer noch steht der Sheriff zunächst allein auf der staubigen Strasse; seine händeringenden Gehilfen sind nicht zu sehen. Europas Eingreiftruppe soll zwar entstehen, doch noch ist mehr als unklar, unter welchen Voraussetzungen und in welchen Situationen sie dereinst zum Einsatz kommen soll. Schwer vorstellbar bleibt, dass die erwähnten «Besorgnisstaaten» allenfalls Ziel einer solchen europäischen Intervention sein könnten. Man vertraut, wenn aussereuropäische Abenteuer anstehen, ohnehin stillschweigend und kleinlaut auf Amerika. Und dieses Amerika scheint seine Strategie nun zu ändern. Wenn man den jüngsten Meldungen aus Washington allen trauen kann, so hat die Administration Clinton nicht nur semantische Korrekturen vorgenommen, sondern eine breite Charmeoffensive gegen die ehemaligen «Schurken» eingeleitet. Wahllos herausgegriffen: Gespräche und Coca-Cola für Nordkorea, Entspannung mit Iran, eine friedliche Pensionierung ohne Kontensperrung für Milosevic, viel Lob für den neuen Herrscher Syriens und sogar gegenüber Kuba Lockerungen des Embargos. Alles wirkt provisorisch, und was es wirklich zu bedeuten hat, darüber darf gerätselt werden. Vielleicht lockt in Oslo kurz vor Torschluss ein Nobelpreis. Hart geblieben ist Clinton - bis jetzt - dagegen beim Internationalen Strafgerichtshof, der noch nicht in Funktion ist und über dessen mögliche Rechtsprechung gegenwärtig in New York gerungen wird. Dafür, dass sich die Amerikaner gegen eine Unterstellung ihrer Truppen unter die Jurisdiktion dieses Gerichtshofs sträuben, gibt es gute Gründe. Jene, die sich über die amerikanische Weigerung empören, sind nicht die, die humanitäre Katastrophen verhindern. Nun hat Kosovo erneut gezeigt, dass Kriege nie «sauber» ablaufen und ein Gerichtshof, ob permanent oder nicht, wohl immer im Nachhinein Material zuhauf für Verfahren findet. Selbst die Nato kam unter Verdacht - und wurde auf Bewährung entlassen. Doch das eigentliche Ziel ist Prävention, der Schutz unschuldiger Opfer, das Abwenden noch grösseren Unheils, nicht die Bestrafung der Täter. Wenn das eine dem andern in die Quere kommt, müsste die Priorität eigentlich klar sein. In Rwanda wurden Abertausende umgebracht, die viel beschworene, aber kaum existente internationale Staatengemeinschaft sah nur zu. Erst dann wurde das Tribunal einberufen. In Kosovo kam die Intervention, doch zu spät und mit fragwürdigen Mitteln: Die grossen ethnischen Vertreibungen durch die Serben mit Mord und Totschlag begannen nach der ersten und nicht sehr intensiven Phase der Nato-Luftangriffe. Milosevic wurde angeklagt, noch während Bomben fielen. Damals hiess es, der Kriegsverbrecher habe als Gesprächspartner bei Verhandlungen und als Garant für eine Nachkriegsordnung ausgedient. Heute ist er ein freier Mann und kann zerstörte und von ihm wieder aufgebaute Brücken über die Donau einweihen. Für die lockere Annahme, dass ein permanenter internationaler Strafgerichtshof abschreckende Wirkung entfalten und künftige Tragödien verhindern könnte, gibt es keine Anhaltspunkte. Vielmehr scheint sein Schattenbild jene Macht abzuschrecken, die bewiesen hat, dass sie bei humanitären Operationen entscheidend sein kann. Wenn im Washingtoner Kongress eine Vorlage eingebracht wird, die jede Beteiligung an Uno- Friedensoperationen verbietet, sofern amerikanischen Truppen nicht Immunität vor einer Anklage durch den neuen Gerichtshof zugesichert wird, so ist das die logische Folge einer absehbaren Entwicklung. Ob es je zur Probe aufs Exempel kommt, ist vorerst nicht so wichtig. Es werden jedoch strategische Konsequenzen aufgedeckt, die von den engagierten Befürwortern eines möglichst unabhängigen Gerichtshofs kaum in aller Schärfe bedacht wurden. Es ist ja nicht so, dass sich die Amerikaner darum reissen, in alle Ecken der Welt Soldaten zu schicken, damit dort alles nach ihrem Willen geschehe. Hier spielt sich mehr ab, als auf den ersten Blick erkennbar ist. In einem Bericht über die gegenwärtigen Verhandlungen in New York war zu lesen, amerikanische Abänderungswünsche seien den Diplomaten vor allem deshalb unangenehm, weil sie die Vereinigten Staaten immer mehr vom Rest der Völkergemeinschaft isolierten. Rest? Völkergemeinschaft? Isolierung? Geht es denn darum, der westlichen Führungsmacht eins auf den hochmütigen Deckel zu geben? Das Seilziehen um den Gerichtshof und die dabei spürbaren, höchst unterschiedlichen Motive reflektieren einen breiter gewordenen Widerwillen, die amerikanische Vorrangstellung in der Welt zu akzeptieren. Reaktionen darauf und der zurzeit in Europa wieder vermehrt spürbare Antiamerikanismus folgen dem klassischen Muster: Der «Hegemon» muss eingegrenzt, Gegengewichte müssen geschaffen werden. Russland und China ist es seit den neunziger Jahren ein offen deklariertes Anliegen, eine multipolare Weltordnung herzustellen; Prämisse ist, dass gegenwärtig eine unipolare existiert, eine Behauptung, die näherer Betrachtung natürlich nicht standhält. In der Kosovo- Krise war oft die Auffassung zu hören, man müsse den Uno-Sicherheitsrat zum alleinigen Schiedsrichter in Fragen der internationalen Sicherheit machen; andere Militärinterventionen seien nicht legitimiert. Doch der Schiedsrichter war nicht handlungsfähig. Weshalb sollte er es künftig sein? «Schurkenstaaten» gibt es weiterhin, auch wenn sie anders heissen. Besorgnis müssten sie eher mehr als weniger erregen. Und der amerikanische Ordnungshüter macht auch grobe Fehler, die sich bei mehr Subtilität vermeiden liessen. Doch wer glaubt, Institutionen kollektiver Sicherheit seien das Mittel, um Gewaltherrscher von verbrecherischem Tun abzuhalten, träumt einen sehr gefährlichen Traum. H. K.
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