junge Welt, 24.06.2000 »Wird Zeit, daß wir wieder aufwachen« Aufbruchstimmung in der kurdischen Metropole Diyarbakir. Von Karin Leukefeld Als die Morgendämmerung langsam über der weiten sattgrünen Hochebene aufsteigt, liegt Urfa bereits hinter uns. Der Bus ist von der dicht befahrenen E 90, der West-Ost- Verbindung, die nah entlang der türkisch-syrischen Grenze verläuft, in Richtung Norden abgebogen. Der Verkehr nimmt schlagartig ab, schnurgerade zieht sich die schmale Straße durch die hügelige Landschaft. Im Nordwesten liegen die schneebedeckten, bis zu 3 000 Meter aufsteigenden Gipfel des südöstlichen Taurusgebirges. Unzählige Schaf- und Ziegenherden brechen von ihren Nachtlagern auf, um über das Weideland und die sich anschließenden kargen Geröllfelder der felsigen Hochebene von Siverek zu ziehen. Acht Stunden braucht der Bus für die knapp 600 Kilometer von Adana nach Diyarbakir im Südosten der Türkei, der kurdischen Hauptstadt. Bisher gab es keine Kontrolle, was nicht immer so war. Vielleicht ist das Ausdruck der »neuen Phase«? So kennzeichnet man in den oppositionellen kurdischen und Menschenrechtsorganisationen die Zeit seit der Einstellung des bewaffneten Kampfes durch die PKK. Selbst bei der kleinen Ortschaft Pirinclik, gut erkennbar an dem weißen Lauschballon des NATO-Militärpostens, wird der Bus nicht angehalten. Zwar blockieren Tonnen die Straße und zwingen den Busfahrer, auf einen Parkplatz auszuweichen. Doch die jungen, verschlafen wirkenden Rekruten der türkischen Armee drehen unschlüssig die Stop-Schilder in den Händen, blinzeln durch die Scheiben und winken den Bus schließlich durch die Sperre. Je näher wir der kurdischen Metropole kommen, desto geringer wird der Abstand zwischen den Polizeistationen am Straßenrand. Massenhaft sind die Gebäude beflaggt, als sei Feiertag. Weiß leuchten Stern und Halbmond auf rotem Grund. Auch an den kasernenartigen Wohnblocks der Polizeifamilien hängen türkische Fahnen aus den Fenstern, vom Balkon, am Fahnenmast vor der Haustür. Dazwischen immer wieder ein überdimensionales Transparent des großen Führers der Türkischen Republik, des »Vaters aller Türken«, Mustafa Kemal Atatürk. Die Polizeistationen sind ebenso wie die dazugehörigen Wohnkomplexe eingezäunt. Die Beflaggung soll offenbar Respekt für die eigene, bei den Kurden deutlich unerwünschte, Präsenz verschaffen. Außer den Fremden würdigt niemand der Mitreisenden die lächerlich wirkende Flaggenparade eines Blickes. Es ist Samstag. Die Menschen strömen in das Zentrum von Diyarbakir. Straßenhändler ziehen ihre Karren mit kunstvoll aufgetürmtem Obst und Gemüse zu den Stellplätzen. Kassettenverkäufer haben ihre Lautsprecher auf die höchste Stufe gestellt und werben für die neuesten kurdischen Kassetten. Trotz einer kürzlich veröffentlichten Liste verbotener kurdischer Musikkassetten ist hier alles zu haben. Und alle sprechen kurdisch. Fast könnte man denken, man befände sich in einer ganz normalen kurdischen Großstadt, als lautes Tösen von Militärjets daran erinnert, daß Ausnahmezustand herrscht. Die von dem nahe der Stadt gelegenen Militärflughafen gestartete Staffel fliegt wie zur Bestätigung eine tiefe Runde über der Stadt, bevor sie in Richtung irakisch-iranischer Grenze aufbricht. Tausende türkischer Soldaten haben erst vor wenigen Tagen die Grenze in den Nordirak überschritten. Sie machen Jagd auf die PKK, so der Generalstab der Armee. Die US-Regierung beeilt sich, per Pressemitteilung ihre Unterstützung für die illegale Aktion des NATO-Partners zu erklären. Proteste der irakischen Regierung und anderer arabischer Staaten werden - wie schon die Jahre zuvor - ignoriert. Europa schweigt. Auf dieser Seite der Barrikade scheint man nichts von der »neuen Phase« wissen zu wollen, der Krieg dauert an. Von der Stadtmauer von Diyarbakir eröffnet sich ein wunderbarer Blick über das fruchtbare Tal des Dicle, so der kurdische Name für den Tigris. Die Menschen arbeiten auf ihren kleinen Feldern und Gärten, Pferde, Schafe und Ziegen ziehen friedlich grasend über Wiesen, Kinder spielen an einem Bach. Doch die Idylle trügt: Die Abwässer der Stadt werden, teilweise in freiem Abfluß, auf die Felder gespült, und niemand soll sich über die abertausend Typhusfälle in der Stadt wundern. Die Kläranlagen Diyarbakirs sind völlig veraltet. Zwar gibt es finanzielle Zusagen aus Europa, doch wann der Neubau beginnt, steht noch in den Sternen. So ist das in der OHAL-Bölge, dem Ausnahmezustandsgebiet. Der Dicle trägt nur wenig Wasser, obwohl die Schneeschmelze begonnen hat. Das wichtige Lebenselixier wird bereits nördlich von Diyarbakir im Rahmen des GAP-Staudammprojekts mit zwei Staudämmen zugunsten eines dort geplanten internationalen Industriezentrums am freien Lauf gehindert. Am Nachmittag findet ein Empfang anläßlich einer Filmpremiere statt. Zum ersten Mal seit 20 Jahren wird der Film »Sürü« von Yilmaz Güney in Diyarbakir gezeigt. Der Film »Die Herde« entstand während seiner Haftzeit auf der Gefängnisinsel Imrali, wo heute ein anderer prominenter kurdischer Gefangener, Abdullah Öcalan, in Einzelhaft ist. Neben der Witwe von Yilmaz Güney, Fatusch, nehmen langjährige Freunde des kurdischen Autors und Regisseurs an der Würdigung teil. Im Festsaal des Bürgermeisteramts herrscht Feiertagsstimmung. Dicht gedrängt sitzen Studentinnen neben alten Hodschas, Frauen mit weißen Kopftüchern neben jungen Familien, Rechtsanwälte, Journalisten, Politiker, alle festlich gekleidet. Als Fatusch Güney die Anwesenden in kurdischer Sprache begrüßt, jubilieren Zilgit-Triller der kurdischen Frauen durch den Saal. Yilmaz Güney selber wurde 1937 in Siverek geboren und starb 1984 im französischen Exil. Beim Abendessen berichtet uns Osman Baydemir, Rechtsanwalt und Vorstandsmitglied der Demokratischen Plattform Diyarbakir, von einem anderen, bis dahin ebenfalls einmaligen Erlebnis, dem diesjährigen Newroz-Fest. Über 200 000 Menschen feierten den 21. März auf den Straßen Diyarbakirs. »Es war wie ein Traum, an den wir vielleicht schon nicht mehr geglaubt hatten«, sagt er leise und blickt gedankenverloren auf seine Schuhspitzen. Dann huscht ein Lächeln über sein Gesicht. »Wird Zeit, daß wir langsam wieder aufwachen.« Die Abfahrt mit einem örtlichen Dolmus-Busunternehmen am nächsten Morgen nach Batman verzögert sich. An einer Straßenecke, die offenbar auch als Haltestelle dient, wartet ein Mann mit seiner vielköpfigen Familie, alle Frauen sind tief verschleiert. Die Frauensitzbank im Dolmus ist besetzt. Keinesfalls darf sich hier eine Frau neben einen Mann setzen, es sei denn, sie sind verheiratet. Also versucht der Fahrer, einige der Männer zu bewegen, zugunsten der Frauen auszusteigen und mit dem nächsten Dolmus zu fahren. Das führt zu einer lebhaften Debatte mit dem Ergebnis, daß die Großfamilie stehenbleibt. Zurück geht die Fahrt zum zentralen Busbahnhof, wo der nächste Dolmus schon wartet. Allerdings sind dort noch nicht genügend Fahrgäste eingestiegen, also wird gewartet. Auch die Aussicht auf die Großfamilie, die einige Ecken weiter wartet, bringt den Fahrer nicht dazu, loszufahren. Nach aufgeregtem Wortwechsel unter den Fahrern startet unser Dolmus mit quietschenden Reifen, kommt aber nicht weit. An der Ausfahrt des Busbahnhofs hat sich eine große Menschenmenge versammelt. Viele tragen orangefarbene weite Westen mit der Aufschrift »Wir halten unsere Stadt sauber«. Blaue Plastiksäcke werden verteilt, ein Kleinlaster bringt Besen und alte, aufgeschnittene Olivenölkanister, die als Kehrschaufel dienen. Mehrere Filmteams begleiten die Menschenmenge, die sich schließlich in alle Richtungen verteilt und den reichlich herumliegenden Müll von den Gehwegen, aus dem Rinnstein und den Büschen am Straßenrand klaubt. Ungeduldig hupt der Dolmus-Fahrer, die Menschen schimpfen zurück. Schließlich tun sie hier alle etwas für die Stadt, freiwillig, an einem Sonntag! Am nächsten Tag ist in der Zeitung zu lesen, daß der Aufruf der HADEP- Stadtverwaltung in mehreren Vierteln der Stadt unterstützt wurde. »Aktionen wie diese werden das Abfallproblem Diyarbakirs mit seinen 1,5 Millionen Einwohnern sicher nicht lösen«, sagt ein Mitglied des Stadtparlaments von Diyarbakir. Es zeige aber die Bereitschaft der Menschen, ihre Stadt, ihr vom Krieg zerstörtes Land selber wieder aufzubauen. »Wenn andere, zum Beispiel aus Europa, uns dabei helfen wollen, würden wir uns freuen. Aber wir gehen davon aus, daß niemand uns helfen wird. Die Kurden haben keine Anwälte. Wir erreichen nur, was wir aus eigener Kraft aufbauen.«
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