Bremer Nachrichten, 27.06.2000 Noch weit von Europa entfernt Das türkische Militär behindert Annäherung an die EU / Keine öffentliche Debatte Von unserer Korrespondentin Susanne Güsten Istanbul. Hinter fest verschlossenen Türen in Ankara tobt der Krieg der Positionspapiere. Seit Monaten beharken sich Ministerien, Militärs und Bürokraten mit Vorschlägen und Gegenvorschlägen zum Thema Europa. Ein halbes Jahr nach der Anerkennung der Türkei als EU-Kandidatin hat in den Zentralen von Regierung, Armee und Verwaltung das Nachdenken darüber begonnen, was sich im Land alles konkret ändern muss, wenn die EU-Mitgliedschaft nicht ein schöner Traum bleiben soll. Dabei gerieten sich die Akteure heftig in die Wolle; selbst beim sonst stets auf Geschlossenheit bedachten Militär taten sich Risse auf. Das jetzt bekannt gewordene Zwischenergebnis lässt für die türkischen EU-Ambitionen nichts Gutes erwarten: Ab sofort sollen alle Debatten vom so genannten Nationalen Sicherheitsrat (MGK) gesteuert werden - und dieses Machtinstrument der Militärs sträubt sich gegen weitreichende Reformen. Selbst staatstreue Beobachter wie das liberalen Blatt "Radikal" kritisieren, der MGK sei inzwischen eine Art Parallelregierung. Allen Verantwortlichen in der Türkei war nach dem EU-Gipfel von Helsinki klar, dass der Weg nach Europa sehr schwer werde. Reformen in Justiz, Politik, Wirtschaft und Sozialwesen sind nötig. Bei den im Frühjahr begonnenen Beratungen zwischen den wichtigsten Akteuren ging es darum, welche Verfassungsartikel, Gesetze und Verordnungen geändert werden müssen, um den EU-Vorgaben im besonders heiklen Bereich der Menschen- und Minderheitenrechte zu genügen. Das sind schwierige Fragen, die an den Kern des türkischen Staatsverständnisses rühren. Die Aufgabe wurde noch dadurch erschwert, dass es in der türkischen Hauptstadt bisher keine Zentralstelle für EU-Fragen gibt und jeder sein eigenes Süppchen kocht - während sich EU-Vertreter immer wieder darüber beklagen, dass nichts vorangeht. Schauplatz der Diskussion zwischen den Vertretern der Ministerien, der Armee und anderer Staatsinstitutionen war der Hohe Koordinationsrat für Menschenrechte, ein beim türkischen Ministerpräsidentenamt angesiedeltes Gremium. Dort wurden insbesondere vom Außen- und Justizministerium radikale Reformvorschläge auf den Tisch gebracht: Sprachfreiheit für die Kurden, eine Neuordnung des Staatsbürgerschaftsrechts, Ausweitung der Meinungsfreiheit und ein besserer Schutz von Minderheiten gehörten ebenso dazu wie die Abschaffung der Todesstrafe. In letzterem Punkt herrscht inzwischen weitgehende Übereinstimmung - doch bei den anderen Themen sieht es düster aus. Vor allem das MGK-Generalsekretariat tat sich im Koordinationsrat als Bremser hervor - und zwar so stark, dass selbst Vertreter des Armee-Generalstabs dort liberalere Ansichten verfochten als ihre Kollegen vom Sicherheitsrat. Doch in den entscheidenden Phasen der Debatte ließ die Armee den MGK-Vertretern offenbar freie Hand. Der MGK kassierte so gut wie alle Vorschläge, die auf substanzielle Veränderungen des türkischen Staates hinausgelaufen wären. Der Vorsitzende des Hohen Koordinationsrates, Gürsel Demirok, nahm unlängst seinen Hut, angeblich unter dem Druck der Militärs. Unter anderem wischten die MGK-Vertreter das Argument des Außenministeriums vom Tisch, der Lausanner Vertrag von 1923 - gewissermaßen die Geburtsurkunde der modernen Türkei - sehe Sprachfreiheit für alle Bürger vor. Der MGK setzte sich mit der Interpretation durch, dass in diesem Vertrag lediglich Griechen, Armenier, Juden und Bulgaren als Minderheiten anerkannt wurden - von Kurden sei keine Rede. Auch die Zulassung von kurdischsprachigem Fernsehen komme nicht in Frage. Konsequent sperrte sich das MGK-Sekretariat auch gegen durchgreifende Veränderungen im Sicherheitsrat selbst. Ausgerechnet der Generalstab hatte zur allgemeinen Überraschung vorgeschlagen, die Zahl der zivilen Mitglieder in dem bisher von den Militärs beherrschten Gremien zu erhöhen. Damit wollten die Generäle den Europäern entgegenkommen, die den Sicherheitsrat als Instrument der undemokratischen Einflussnahme der Militärs auf die Politik in der Türkei sehen. Die MGK-Vertreter aber machten deutlich, dass das Generalsekretariat, das unter anderem die Tagesordnungen für die Sicherheitsratssitzungen bestimmt, in den Händen der Militärs bleiben soll. In einem im Mai vorgelegten Papier warf der MGK den Europäern zudem vor, sich in ihren Berichten über die Lage in der Türkei vor allem von Vorurteilen leiten zu lassen. Nun kommt es darauf an, ob und in welchem Maße die Regierung von Ministerpräsident Bülent Ecevit die vom MGK stark beschnittenen Reformvorschläge übernimmt und der EU vorlegt. Ganz ausgeschlossen blieb von diesen Debatten bisher die türkische Öffentlichkeit: Die Fragen der weiteren Demokratisierung und der Verfassungsreform wurden nur in den Hinterzimmern Ankaras erörtert, nicht aber in Parlament, Presse oder Parteien. Dass Ankara diese Grundfragen des Staatswesens nur von Beamten und Militärs diskutieren lässt, aber nicht von der breiten Öffentlichkeit, zeigt, wie weit die Türkei noch von Europa entfernt ist.
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