Neue Zürcher Zeitung, 28.06.2000 Nr.148 Debatte über die Todesstrafe in der Türkei Ankara verweigert den Kurden kulturelle Eigenständigkeit Ein Jahr nach dem Todesurteil gegen den Kurdenführer Öcalan und der Einstellung der Kämpfe im kurdischen Südosten findet in der Türkei eine öffentliche Debatte über die Abschaffung der Todesstrafe statt. Ankara spricht den türkischen Kurden jegliche kulturelle Eigenständigkeit ab und bezeichnet eine diesbezügliche Forderung der EU als übertrieben. it. Istanbul, 27. Juni Mitte Juni hat der neue türkische Präsident Ahmet Necdet Sezer eine Debatte über die Abschaffung der Todesstrafe eröffnet, die seither die Gemüter in der Türkei erregt. Die Todesstrafe sei das grösste Hindernis auf den Weg des Landes in die Europäische Union, sagte Sezer den Mitgliedern des Ministerrates, die ihm nach seiner Wahl ins höchste Staatsamt den ersten offiziellen Besuch abstatteten. Der Präsident forderte eine umgehende Abschaffung der Todesstrafe und erläuterte seinen Besuchern die Dringlichkeit der Reform. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte könne im nächsten Halbjahr im Fall des zum Tode verurteilten Kurdenführers Abdullah Öcalan eine Entscheidung treffen, sagte er. Die Türkei müsse deshalb die Todesstrafe noch vor der Entscheidung in Strassburg abschaffen, wolle sie nicht von der Bevölkerung bezichtigt werden, sich den Verordnungen der EU zu beugen. Seit diesem in der Tageszeitung «Hürriyet» veröffentlichten Gespräch hält die Debatte über die Todesstrafe an. Eine auf Öcalan bezogene Reform Ministerpräsident Ecevit ist seit langem als Gegner der Todesstrafe bekannt. Während eines Besuchs in der inoffiziellen kurdischen Hauptstadt Diyarbakir unterstrich er einmal mehr, dass er persönlich die Abschaffung der Todesstrafe befürwortete. Der Beifall der Menschenmenge auf dieses Versprechen hin war so laut und enthusiastisch, dass auch dem Altpolitiker Ecevit klar werden musste, dass die Diskussion über die Todesstrafe in Wirklichkeit eine Debatte über das Schicksal des Kurdenführers Öcalan ist. Die kurdische Bevölkerung befürwortet mehrheitlich die Abschaffung der Kapitalstrafe, hauptsächlich weil sie Öcalans Leben retten will. Türkische Nationalisten bemühen sich um das Gegenteil. Die mitregierende Nationalistische Aktionspartei (MHP) ist laut ihrem Vorsitzenden, Bahceli, prinzipiell nicht gegen eine Abschaffung der Todesstrafe. Zuvor müsse aber, so wird von dieser Seite betont, Öcalan am Galgen hängen. Kürzlich hat sich nun auch der Generalstabschef, Kivrikoglu, in die Debatte eingeschaltet. Die Armeeführung würde eine Abschaffung der Todesstrafe nicht ablehnen, sagte er in einem Presseinterview. Bereits vor einem Monat hatten höhere Offiziere gegenüber einer Gruppe von türkischen Journalisten, die den Südosten besuchten, festgehalten, dass im Falle einer Hinrichtung Öcalans die Revolte in den Kurdengebieten neu entflammen werde und blutiger sein könnte als je zuvor. Die Todesstrafe sei in Türkei eigentlich gar kein Thema, stellte das renommierte Politmagazin «Briefing» fest. Allen gehe es lediglich um Öcalan oder um das, was er symbolisiere - nämlich die kurdische Identität schlechthin. Während fünfzehn Jahren hatte Öcalan von seinem Quartier in Damaskus aus die Revolte der Kurdischen Arbeiterpartei (PKK) gegen das türkische Regime geführt, bis er im Februar 1999 unter ungeklärten Umständen aus der griechischen Botschaft in Nairobi entführt und in die Türkei überstellt wurde. Aus der Gefängnisinsel Imrali plädierte er dann auf einmal für Frieden. Öcalan forderte seine Guerilla auf, die Waffen niederzulegen und ihren Kampf in der politischen Arena fortzusetzen. Von Ankara verlangte er, der kurdischen Bevölkerung kulturelle Rechte einzuräumen. Die Kurden wären, so sagte der PKK-Chef, Ankaras treueste Anhänger, wenn die Regierung ihre ethnische Identität anerkennen und das Verbot des Kurdischen aufheben würde. Zwang zur Demokratisierung Kulturelle Rechte für die Kurden, Meinungsfreiheit sowie die Abschaffung der Todesstrafe sind drei der wichtigsten Bedingungen, von welchen die EU im vergangenen Dezember konkrete Beitrittsverhandlungen abhängig gemacht hatte. Diese als Kopenhagener Kriterien bekannten Forderungen liessen damals in Kreisen türkischer Demokraten die Hoffnung aufkeimen, dass Ankara nun von Europa zu einem wirklichen Demokratisierungsprozess gezwungen werde. Diese Hoffnung schwindet zunehmend, seitdem in der vergangenen Woche ein Bericht des mächtigen, von den Generälen dominierten Nationalen Sicherheitsrates in die Presse durchgesickert ist. Darin werden die europäischen Forderungen als subjektiv, übertrieben und für die Türkei ungeeignet bezeichnet. Den Kurden, heisst es, könne kein Minderheitenstatus eingeräumt werden, weil der Lausanner Vertrag aus dem Jahr 1923, der die Gründung der Republik besiegelte, die Kurden nicht als Minderheit definiere. Ferner könne Kurdisch als Unterrichtssprache oder in Radio- und Fernsehsendern nicht zugelassen werden, denn dies drohte die Einheit der Nation zu zerstören. Damit machte sich der Nationale Sicherheitsrat faktisch die alte, kemalistische Staatsräson zu eigen. Vergessen scheint der blutige Krieg, der in den letzten 15 Jahren über 35 000 Tote gefordert und die sozialen und wirtschaftlichen Strukturen im Südosten grösstenteils zerstört hat. Der politische Frühling, der nach der Einstellung der Kämpfe im Südosten sich bemerkbar gemacht hatte, droht einem abrupten Ende entgegenzugehen. Seit Mitte Juni werden beinah täglich landesweit Mitglieder der einzigen legalen prokurdischen Partei, Hadep, unter fadenscheinigen Gründen festgenommen. «Welcher Frühling, mein Freund, es gibt nur Hunger» betitelte die in der südanatolischen Stadt Gaziantep veröffentlichte Zeitung «Firat'ta Yasam» einen entsprechenden Bericht. Dies brachte ihr ein sofortiges Publikationsverbot ein. Sie hatte laut der Begründung des Gerichts für «mein Freund» die Worte «bire min» gewählt - und das ist Kurdisch.
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