Bremer Nachrichten, 28.06.2000 Krieg ist vorbei, Frieden noch fern Vor einem Jahr wurde PKK-Chef Abdullah Öcalan in der Türkei zum Tode verurteilt Von unserer Korrespondentin Susanne Güsten Istanbul. Als der türkische Ministerpräsident Bülent Ecevit kürzlich das Kurdengebiet im Südosten des Landes besuchte, hatte er es bei seinen Reden und Kundgebungen mit einem ebenso unerwünschten wie unsichtbaren Gegenspieler zu tun: Abdullah Öcalan. Immer wieder wurde der Regierungschef mit dem Einfluss konfrontiert, den der inhaftierte Anführer der Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) in dieser Gegend des Landes noch hat - so etwa, als einige Zuhörer bei einer Rede Ecevits den PKK-Chef lautstark hochleben ließen und deshalb sofort festgenommen wurden. Ecevit konnte bei seinem Besuch zwar darauf verweisen, dass der Krieg zwischen der PKK und der türkischen Armee nach mehr als 15 Jahren endlich vorbei ist. Doch ein Jahr nach dem Todesurteil gegen Öcalan am 29. Juni 1999 ist noch immer die Frage offen, wie der Frieden aussehen soll. Ecevit sprach im Kurdengebiet einige der sozialen Probleme an, die nach dem Ende der Auseinandersetzungen angepackt werden müssen. Da ist die Armut - der durchschnittliche Monatslohn im Südosten der Türkei liegt bei 270 Mark - und die hohe Arbeitslosigkeit, die in einigen Bezirken 50 Prozent erreicht. Da ist die Frage, was mit den mehreren zehntausend "Dorfwächtern" geschehen soll, den Mitgliedern der von Ankara aufgestellten, bewaffneten und bezahlten Kurdenmilizen, die in den vergangenen Jahren zusammen mit der Armee gegen die PKK gekämpft haben. Die "Dorfwächter" sollen entlassen werden, weil sie nicht mehr gebraucht werden; doch auch Ecevit weiß bisher nicht so recht, was die Türkei mit so vielen bewaffneten Arbeitslosen anfangen soll - deshalb bleiben die "Dorfwächter" vorerst im Dienst. Dieser Schwebezustand zwischen waffenstarrendem Kriegszustand und friedlichem Neubeginn herrscht auch in anderen Bereichen. So wurde der seit Jahren geltende Ausnahmezustand kurz nach den Friedensappellen Öcalans an seine Kämpfer in einer von sechs Kurdenprovinzen aufgehoben, weil es dort kaum noch Gefechte gab. Jetzt soll eine weitere Provinz folgen; doch in vier anderen Provinzen bleibt das Kriegsrecht in Kraft. Zudem ist geplant, die im Krieg von der Armee und der PKK zerstörten Dörfer in der Region neu aufzubauen und die ehemaligen Einwohner, die in die großen Städte oder ins Ausland geflohen sind, zur Rückkehr zu bewegen. Doch das kostet Geld, und das fließt nur sehr spärlich. Politisch befindet sich die Türkei im Kurdenkonflikt ebenfalls zwischen alter Konfrontation und neuem Anfang. Öcalan wird nicht müde, von Imrali aus eine "politische Lösung" des Konflikts zu fordern, doch der Rebellenchef wäre nach eigenen Aussagen schon zufrieden, wenn Ankara zum Beispiel Schulunterricht oder Fernsehen in kurdischer Sprache zuließe. Ecevits Regierung lehnt dies aber ab: Für sie kommt ein Dialog mit Öcalan oder der PKK ebensowenig in Frage wie die Gewährung spezieller Minderheitenrechte für die Kurden. Immerhin hat ein Jahr nach dem Todesurteil gegen Öcalan, aber auch in der Regierung die Suche nach Auswegen aus der Sackgasse der Konfrontation begonnen. So dachte Außenminister Ismail Cem laut über kurdisches Fernsehen nach; Beamte seines Ministeriums betonten kürzlich in einem Bericht, die Gründungsverträge der Türkei sähen keine Sprachverbote vor. Zudem hat eine Diskussion über die Abschaffung der Todesstrafe begonnen, die vor der Festnahme Öcalans und den Friedensaufrufen des PKK-Chefs völlig undenkbar gewesen wäre. Ecevit bekräftigte bei seinem Besuch im Kurdengebiet seine Absicht, die Todesstrafe aufzuheben. Der Nationale Sicherheitsrat, das von den Militärs beherrschte oberste Entscheidungsgremium des türkischen Staates, setzte jetzt einen Ausschuss ein, der dieses Vorhaben prüfen soll. Viele dieser Neuansätze hängen mit den Europa-Ambitionen Ankaras zusammen, die ein Jahr nach dem Urteil im Öcalan-Prozess die außenpolitische Agenda bestimmen. "Die Türkei muss sich erneuern", betonte Cem erst kürzlich wieder. Die weitere Demokratisierung und die Durchsetzung der Menschenrechte sind Aufgaben, denen sich der türkische Staat stellen muss, wenn das Land eines Tages EU-Mitglied werden will. "All das sind positive Entwicklungen", sagt ein kurdischer Aktivist in Istanbul. "Und jeder Schritt wird auch dem Kurdengebiet nützen."
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