Der Tagesspiegel, 06.07.2000 Todesstrafe Türkei will Hinrichtungen abschaffen, sie aber durch härteste Strafen ersetzen Susanne Güsten Nach monatelangem Zögern hat die türkische Regierungskoalition jetzt die Weichen für eine zügige Abschaffung der Todesstrafe gestellt. Die konservative Mutterlandspartei legte einen entsprechenden Gesetzentwurf vor, die rechtsnationalistische MHP gab ihren Widerstand gegen das Vorhaben auf, und Ministerpräsident Bülent Ecevit stellte einen Entscheidungsmodus vor, nach dem die von Europa geforderte Reform zügig verabschiedet werden kann, ohne die Koalition in Schwierigkeiten zu bringen. Allerdings hat der Plan noch zwei Haken: Die im Gesetzentwurf vorgesehenen Strafen, die an die Stelle der Hinrichtung treten sollen, könnten in ihrer Härte auch wieder auf Kritik der EU treffen. Und die MHP will sich ausdrücklich auch nach Abschaffung der Todesstrafe die Entscheidung über eine Hinrichtung des verurteilten PKK-Chefs Abdullah Öcalan vorbehalten. Der Gesetzentwurf der Mutterlandspartei sieht vor, die Todesstrafe per Reform des Strafgesetzbuches durch lebenslange Zuchthausstrafen zu ersetzen. Dabei sollen die Verurteilten für den Rest ihres Lebens jeden Kontakt zur Außenwelt verlieren und auch keine Chance bekommen, durch gute Führung oder Gnadenakte jemals wieder frei zu kommen. Die vorgeschlagenen Strafen seien tatsächlich "schlimmer als der Tod", gab der federführende Abgeordnete Beyhan Aslan zu; dies sei allerdings auch seine Absicht gewesen, um die Öffentlichkeit für das Projekt zu gewinnen. Die meisten Türken seien weiterhin gegen die Abschaffung der Todesstrafe, doch die Regierung habe sich gegenüber der Europäischen Union dazu verpflichtet. "Deshalb haben wir die Alternativen zur Todesstrafe so verschärft, dass niemand etwas gegen deren Abschaffung haben kann." In europäischen Diplomatenkreisen in Ankara wurden diese Vorschläge zwar mit Skepsis aufgenommen, doch überwog dort die Befriedigung darüber, dass der Reformprozess zur Abschaffung der Todesstrafe endlich begonnen hat. Schon beim EU-Gipfel von Helsinki im Dezember hatte Ecevit diesen Schritt versprochen, doch geschehen war bisher nichts - bis die mächtigen Militärs im Juni darauf hinwiesen, sie würden sich dieser Anpassung an europäische Rechtsnormen nicht in den Weg stellen. Den gordischen Knoten, an dem die Koalition in Ankara seit sieben Monaten herumfummelte, durchschlug daraufhin ausgerechnet die MHP, die bisher energisch für die Beibehaltung der Todesstrafe eingetreten war. Mit Rücksicht auf die EU-Ambitionen des Landes gab MHP-Chef Bahceli seinen Koalitionspartnern grünes Licht, die Reform mit der Opposition und ohne seine Partei zu verabschieden. Auf diese Weise kann die Todesstrafe abgeschafft werden, ohne dass die MHP ihre Wahlversprechen brechen muss. Ministerpräsident Ecevit schlug sofort ein: "Zur Abschaffung der Todesstrafe brauchen wir weder eine Regierungsentscheidung noch eine Verfassungsänderung." Die Reform werde mittels einer Verständigung zwischen den Parteien im Parlament verabschiedet. Voraussetzung dafür ist allerdings, dass sich die Koalition bis dahin auch über das Schicksal Öcalans geeinigt hat. Bahceli pocht darauf, dass er zu Jahresbeginn lediglich einem Aufschub der Hinrichtung bis zur Entscheidung des Europäischen Menschenrechtsgerichts zugestimmt hatte, nicht aber der Aufhebung des gegen den PKK-Chef verhängten Todesurteils. Von der Abschaffung der Todesstrafe will die MHP den Fall Öcalan deshalb ausgenommen wissen. Die Entscheidung über sein Schicksal müsse der Koalition vorbehalten bleiben, verlangt der Vize-Ministerpräsident - das sei ihm damals schließlich versprochen worden.
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