taz Berlin 6.7.2000 Erst Haft, dann Abschiebung Der 16-jährige Erdal A. wurde wegen Mordes zu einer fünfjährigen Freiheitsstrafe verurteilt. Nach der Verbüßung wird er in die Türkei abgeschoben. Sachverständiger: "Hopfen und Malz nicht verloren" von PLUTONIA PLARRE Das Schicksal des Jugendlichen Erdal A. scheint besiegelt: Nach mehrtägiger Verhandlung hat eine Jugendstrafkammer des Landgerichts den 16-jährigen Türken gestern wegen Mordes zu einer Freiheitsstrafe von fünf Jahren verurteilt. Wenn das Urteil rechtskräftig ist, wird Erdal A. nach der Verbüßung seiner Haftstrafe in die Türkei abgeschoben. Der Richterspruch ist Wasser auf die Mühlen von Innensenator Eckart Werthebach (CDU), der nach der Festnahme von Erdal A. im Januar die Abschiebung des "weder integrationswilligen noch -fähigen" Jugendlichen gefordert hatte. Dass Erdal A. seit seinem fünften Lebensjahr in Berlin lebt und seine gesamte Familie in Deutschland ist, ist kein Hinderungsgrund. Nach Paragraf 48 des Ausländergesetzes werden minderjährige Straftäter, deren Eltern in Deutschland leben, abgeschoben, wenn sie zu mehr als drei Jahren rechtskräftig verurteilt worden sind. Für das Gericht steht fest, dass Erdal A. am 20. Januar in vorsätzlicher Tötungsabsicht gehandelt hat, als er einen Frisörgehilfen in einem türkischen Frisörsalon in Spandau mit mehreren Messerstichen schwer verletzte. Erdal A. habe den Gehilfen ausschalten wollen, weil dieser als Zeuge in einem Prozess gegen ihn wegen eines Körperverletzungsdeliktes aussagen sollte. Erdal A. hat die Tötungsabsicht in dem unter Ausschluss der Öffentlichkeit stattfindenden Prozess vehement bestritten. Er habe den Gehilfen lediglich zur Rede stellen wollen. Dabei sei es zum Streit gekommen, der eskalierte. Das Gericht schenkte dieser Aussage keinen Glauben, weil Erdal A. bei seiner ersten Vernehmung wenige Stunden nach der Festnahme gesagt hatte, dass er den Gehilfen töten wollte. Bei der Vernehmung, die ohne Rechtsbeistand und Erziehungsberechtigten stattfand - ein Minderjähriger hat darauf Anspruch - hatte sich Erdal A. in einer Art jugendlicher Trotzreaktion um Kopf und Kragen geredet. Auf die Frage nach seinem Hobby hatte er geantwortet: "Schlagen." Zur Begründung gab er vor Gericht an, er sei außer sich gewesen, weil ihm die Polizeibeamten auf der Wache in den von seinem Vater überreichten Döner gespuckt hätten. Eine als Zeugin geladene Protokollantin bestätigte, dass Erdal schon damals von so einem Vorfall gesprochen hatte. Bei der Verhandlung erlitt Erdal A. mehrere Schwächeanfälle. Anders als Werthebach meinte der Gerichtssachverständige, dass "auf keinen Fall Hopfen und Malz verloren" sei, Erdal A. brauche "Führung und Anleitung". Der mitangeklagte, gleichaltrige türkische Jugendliche Taner D. kam wegen gefährlicher Körperverletzung mit zwei Jahren auf Bewährung davon. Dessen Anwalt, Udo Grönheit, hatte in seinem Plädoyer aufgezeigt, auf welch fruchtbaren Boden die politische Stimmungsmache von Werthebach fällt. Nach einem Artikel im Tagesspiegel über den Prozess erhielt Grönheit Post. Ein Leser fragte, ob er noch "ruhig schlafen" könne, wo er doch dazu beitrage, dass "schwer kriminelle Türken auch künftig als Zeitbomben in unserem Land ihr Unwesen treiben".
hintergrund Erdal A. Erdal A. kam mit seinen Eltern 1989 nach Berlin. Er hat fünf Geschwister. In der Türkei lebt nur noch ein 96 Jahre alter Großvater. Die Familie wird von der Jugendgerichtshilfe als streng islamisch beschrieben. Das soziale Umfeld sei sehr schwierig. Viele türkische Jugendliche in seinem Spandauer Kiez seien bewaffnet, die Schwelle zur Gewaltanwendung sei sehr niedrig. Erdal A. ging in die neunte Klasse, als er festgenommen wurde. Lehrer hielten einen Realschulabschluss für möglich. Ein Jugendgerichtshelfer sagte im Prozess, seine derzeitige Situation sei für Erdal A. schwer zu verstehen. Er habe viel nachgedacht und Bücher gelesen, was er früher nicht getan habe. Er sei sehr offen gegenüber der Jugendgerichtshilfe und auch durchaus konfrontationsbereit. "Unter pädagogischer und psychologischer Betreuung ist eine deutliche Veränderung zu erwarten."
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