Stuttgarter Nachrichten, 8.7.2000 Der Schrecken kommt immer näher Istanbul - Wieder war es Nacht, wieder war es kurz nach drei Uhr. Das unheimliche Reißen und Rütteln an den Häusern und der Schrecken, der vielen Menschen seit dem vergangenen Sommer im Nacken sitzt, ließen am frühen Freitagmorgen Millionen von Einwohnern der türkischen Metropole Istanbul aus dem Schlaf hochfahren: Ein neues Erdbeben erschütterte die Stadt. Von unseren Korrespondenten S. GÜSTEN und T. SEIBERT, Istanbul Mehrere dutzend Menschen sprangen in heller Panik aus dem nächsten Fenster und brachen sich Arme und Beine; mehr als 30 Verletzte zählten die Behörden bis zum Nachmittag. Eine 31-jährige Mutter von zwei Kindern erlitt vor Angst einen Herzinfarkt und starb. Was den Istanbulern Stunden nach dem Erdstoß noch Schauer über den Rücken jagte, war nicht die Stärke des Bebens, das "nur'' den Wert 4,2 auf der Richterskala erreichte. Es war vielmehr die Tatsache, dass das Epizentrum des Bebens nur wenige Kilometer vor der Stadt lag, nämlich bei den Prinzeninseln im Marmara-Meer. Nun fragt sich alles, ob das Beben ein Vorbote für die kommende Katastrophe war. Die Erde bebte am Freitagmorgen um 3.15 Uhr Ortszeit; fast zur gleichen Zeit hatte sich am 17. August vergangenen Jahres das verheerende Beben ereignet, bei dem rund 20000 Menschen starben. Seitdem gehen viele Istanbuler jeden Abend mit der Angst vor einem neuen schweren Beben schlafen. Die Experten können dabei nur wenig Trost spenden: Der führende Erdbebenforscher des Landes, Ahmet Mete Isikara, analysierte, das Beben vom Freitag sei ein "unabhängiges'' gewesen, also kein Nachbeben der Erdstöße des vergangenen Jahres. Mit andern Worten: Möglicherweise steht den Istanbulern noch mehr ins Haus. Die Prinzeninseln wurden seit 1985 bereits sechsmal von mittleren Beben erschüttert. Andere Fachleute machten die Istanbuler darauf aufmerksam, dass ihre Stadt in den kommenden Jahren mit hoher Wahrscheinlichkeit von einem starken Beben heimgesucht werden wird. Denn Istanbul liegt nur rund 25 Kilometer von der nordanatolischen Verwerfungslinie entfernt, die die Türkei von Ost nach West durchzieht und südwestlich der Zwölf-Millionen-Stadt das Marmara-Meer durchquert. Die meisten schweren Erdbeben der vergangenen Jahrzehnte in der Türkei ereigneten sich entlang dieser Linie - und aus Sicht der Istanbuler kommen die Einschläge immer näher. Die Stadt ist auf ein mögliches Katastrophenerdbeben nicht gut vorbereitet: Es gibt keine umfassenden statischen Untersuchungen von Gebäuden und keine Verkehrsplanung für den Notfall.
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