Tagesspiegel, 10.7.2000 Abschied von den Symbolen - Die Regierung und die Menschenrechte Christoph von Marschall Der Außenminister müsse wegen seiner Iran-Politik zurücktreten,
donnert der Oppositionsabgeordnete, der "kritische Dialog"
sei gescheitert. Trotz der anhaltenden Menschenrechtsverletzungen habe
die Bundesregierung die Wirtschaftsbeziehungen aufrechterhalten, ja
sogar ausgedehnt und damit das Mullah-Regime gestärkt. Deshalb:
Ohne substanzielle Fortschritte bei Demokratie und Menschenrechten keine
Annäherung. Das war 1997 im Bundestag, der Außenminister
hieß Klaus Kinkel, seinen Rücktritt forderte Joschka Fischer,
der Grüne. Es ist wahr, der Iran hat sich seit 1997 stark verändert: Der deutsche Geschäftsmann Hofer sitzt nicht mehr im Gefängnis, Chatami bemüht sich um eine vorsichtige Öffnung, das Volk hat seine Politik bei den jüngsten Wahlen mit einem klaren Sieg der Reformer belohnt, auch die Meinungsfreiheit nimmt zu. Aber mehr noch hat Joschka Fischer sich bewegt. Das zeigten bereits die Besuche des russischen Präsidenten Putin und des chinesischen Ministerpräsidenten Zhu Rongji, denen Fischer kaum die Hand hätte geben dürfen, wenn es ein Primat der Menschenrechte in der grünen Außenpolitik gäbe. Fischer ist immer mehr zum Pragmatiker geworden, ist abgerückt von einer Symbolpolitik, die Lautstärke mit Stärke verwechselt und Pathos mit Wirkung. Dieser Schwenk vollzog sich nicht stetig, sondern erratisch, unterbrochen von letzten Aufwallungen einer moralisch-cholerischen Außenpolitik: Kosovo-Krieg im Namen der Menschenrechte, geschäftlicher Umgang mit Russland trotz Tschetschenien, keine Panzer für den Nato-Partner Türkei wegen der Menschenrechtsverletzungen, aber EU-Kandidatur der Türkei zur Stärkung der Demokratie dort, Österreich-Boykott wegen Rassismus-Bedenken. 1998, gleich nach Amtsantritt, hatte Fischer einen Menschenrechtsbeauftragten im Auswärtigen Amt installiert: als Symbol der Neuorientierung. Es passt ins Bild, dass man von Gerd Poppe so gut wie nichts mehr hört - weder zu China, noch zu Iran, von Österreich ganz zu schweigen. Schleichend hat sich in den letzten anderthalb Jahren ein Prioritätenwandel ergeben: von der Menschenrechtsorientierung zur Rechtsstaatsorientierung. Mit plakativem Protest, mit dem Hinweis auf spektakuläre Dissidentenfälle lässt sich, vielleicht, das Schicksal einiger Weniger lindern. Nachhaltig wird sich die Lage der Chinesen, Tibeter, Tschetschenen nur bessern, wenn Anarchie und Korruption überwunden werden, der Rechtsstaat gestärkt wird. Mit Zhu Rongji hat die rot-grüne Bundesregierung ein einzigartiges Abkommen geschlossen, das dem kritischen Dialog über die Menschenrechte eine vertragliche Grundlage gibt und die Entwicklung des Rechtsstaats anpeilt. Doch dafür mussten weder der Kanzler noch sein Außenminister sich zu einer so fragwürdigen Geste bequemen wie Helmut Kohl, der 1995 der chinesischen Volksarmee seine Aufwartung machte, die 1989 die Bürgerrechtsbewegung auf dem Platz des Himmlischen Friedens im Blut erstickt hatte. Fischers Pragmatismus gegenüber Putin in Sachen Tschetschenien geht zwar etwas zu weit - und wirkt im Kontrast zur Österreich-Politik unglaubwürdig. Aber auch hier gilt: Die Menschenrechte der Tschetschenen werden sich wohl kaum durchsetzen lassen, bevor nicht Rechtssicherheit in anderen Lebensbereichen garantiert ist. Zugespitzt: Langfristig werden Steuergerechtigkeit und Gleichheit vor der Justiz in Russland auch den Bürgern im Kaukasus mehr bringen als drei Delegationen des Europarats in Tschetschenien, die im Zweifel nur feststellen, dass beide Seiten morden und foltern. Das eigentliche Problem solcher Diktaturen sind nicht mehr ihre ideologischen Fassaden, nicht Kommunismus oder politischer Islam, sondern ihre rechtliche Willkür und ihre Korruption - in China so gut wie in Russland und in Iran. Insofern sind ideologische Zugeständnisse auch nicht der Schlüssel zu ihrer Überwindung, da handelt Fischer schon richtig. Die rot-grüne Regierung, ausgerechnet sie, hat den Akzent deutscher Außenpolitik deutlich verschoben: weg vom Menschenrechtssymbolismus, hin zum Pragmatismus, weg von den Appellen, hin zu den Interessen. Man staunt. |