Neue Zürcher Zeitung, 12. Juli 2000
Irans Frauen erobern kleine Freiräume
Im Eherecht liegt die Gleichberechtigung noch in weiter Ferne Mit Zähigkeit
haben es die Iranerinnen geschafft, dass die Verhüllungspflicht
und das Schminkverbot mehr und mehr gelockert werden. In einer immer
offener geführten Diskussion fordern sie nun die Abschaffung ihrer
gesetzlich festgelegten Benachteiligungen. Die Frauen argumentieren,
dass diese nicht im Islam, sondern in dessen falscher Auslegung durch
die religiösen Autoritäten begründet seien.
ber. Teheran, im Mai
Das Schwimmbad im Hijab-Klub ist erfüllt von zarten weiblichen
Stimmen und Wassergeplätscher. Noch sind die professionellen Schwimmerinnen
nicht gekommen, und es gibt Platz für die Frauen, welche sich einfach
etwas bewegen wollen. Darunter sind auffallend viele ältere; die
Bademeisterin meint, bei ihnen sei das Interesse, schwimmen zu lernen,
besonders gross. Der Hijab-Klub ist staatlich, die Lektionen sind günstig,
und der Andrang ist entsprechend gross. Die 52-jährige Pari hat
vor drei Jahren angefangen zu schwimmen, weil sie nach mehreren Schwangerschaften
unter geschwollenen Beinen litt. Bereits nach drei Monaten spürte
sie eine Besserung. Als sie merkte, dass das Schwimmen ihr auch psychisch
und geistig gut tat, blieb sie dem Hijab- Klub treu. Nur mit dem leichten
Badeanzug bekleidet, im warmen Wasser und unter ihren Freundinnen fühle
sie sich zum ersten Mal in ihrem Leben wirklich frei, schwärmt
Pari.
Schminken und Zigaretten rauchen
Nach dem erquickenden Bad müssen sich die Frauen wieder in den
obligatorischen Mantel und das Kopftuch oder in den Tschador hüllen.
Einige schminken sich vor den Fensterscheiben; die streng religiöse
Garderobefrau habe dafür gesorgt, dass alle Spiegel aus den Umkleidekabinen
entfernt worden seien, erläutert die Direktorin. Jeden Tag gebe
es deshalb Gezänk, denn an Fragen, wie weit das Kopftuch zurückgeschoben
werden dürfe und ob etwas Rouge und Lippenstift der Scharia widersprächen,
entzünde sich rasch die Diskussion für oder gegen die Selbstverwirklichung
der Frau. Der "Hijab"- oder Schleier-Klub hat seinen Namen
nach der Strasse erhalten, an der er liegt. Diese wurde 1979 so umbenannt.
Damals wurde der Hijab eines der wichtigsten Symbole der islamischen
Revolution. Als Name eines Klubs gab er ausserdem klar zu verstehen,
dass dieser nur Frauen zugänglich ist. Während man vor der
Revolution die Vermischung propagierte, gab man danach mit geschlechtergetrennten
Sportanlagen den Frauen eine Chance, die unter sich bleiben wollten.
Ähnlich ermöglichte die Einführung getrennter Schulen
den Mädchen sehr konservativer Familien überhaupt erst den
Schulbesuch.
Weniger Sittenkontrollen
Für die Redaktorin Fariba Davudi, die bis vor kurzem in einer der
im vergangenen April verbotenen Tageszeitungen arbeitete, geht die jüngste
Entspannung weit über die gelockerten Kleidungsvorschriften hinaus.
Die früheren regelmässigen Anstandskontrollen in den Strassen
durch die Polizei und die Basij-Milizen (Verbände von Kriegsveteranen)
seien seltener geworden. Sogar lautes Musikhören im Auto mit offenen
Fenstern werde geduldet, und immer öfter könne man Frauen
sehen, die ungeniert in ihrem Wagen rauchten. Nach Ansicht Davudis sind
diese äusserlichen Veränderungen ein untrügliches Zeichen
dafür, dass der Graben zwischen den bestehenden Gesetzen und dem
Wunsch nach Veränderung immer breiter geworden ist. So benötigten
Frauen theoretisch die Erlaubnis ihrer Ehegatten, um eine Arbeit aufzunehmen.
Doch in der Realität - vor allem in der Oberschicht und der gebildeten
Mittelschicht - gelte das als überholt und werde als diskriminierend
für die Frauen betrachtet. Heute sehe man Frauen in praktisch allen
Berufen, sie beteiligten sich aktiver als die Männer an den Wahlen
und liessen sich immer häufiger als Kandidatinnen aufstellen.
Laut Davudi hat das Auseinanderklaffen zwischen den gesetzlichen
Einschränkungen für Frauen und ihrer eigenen, stillen, aber
zähen Auflehnung mit dem Tode Khomeinys 1989 begonnen. In den Jahren
danach habe die Debatte um die Absolutheit der religiösen Führung
rasch auf die Frage übergegriffen, ob die Scharia dynamisch, also
zeitgemässer interpretiert werden könne. Zahlreiche Frauenzeitschriften
entstanden damals; mit Titeln wie "Die Rechte der Frau" wollten
alle die besonders schwierigen Frauenthemen aufgreifen. Die Herausgeber
kritisierten hauptsächlich die wirtschaftlichen, sozialen und rechtlichen
Mängel der Regierung und machten gleichzeitig Vorschläge,
wie diese auf legalem Wege zu beheben seien. Immer wieder wurde betont,
dass die bestehende Ungleichheit zwischen Mann und Frau ihre Ursache
nicht im Koran, sondern in der falschen Interpretation der Scharia durch
die religiösen Autoritäten habe. Sämtliche Zeitschriften
waren und sind - sofern sie nicht verboten wurden - sehr erfolgreich.
Laut Davudi lag das auch an der gelungenen Alphabetisierung. Während
1976 nur 50 Prozent der Jugendlichen lesen und schreiben konnten, waren
es 1996 bereits 93 Prozent. Die jungen Frauen sind lesehungrig und finden
in den Frauenzeitschriften alternative Informationen zum Fernsehangebot,
das bis heute von Vertretern der konservativen Geistlichkeit bestimmt
wird.
Baldiges Sorgerecht für die Mutter?
Gitti Purvasel hat ein freundliches, mit den zoroastrischen Göttern
dekoriertes Anwaltsbüro im Norden Teherans. Die Juristin hat es
erst 1995 wieder geöffnet, nachdem ihr während 14 Jahren die
Lizenz entzogen worden war. Grund dafür war ein kritischer Vortrag
über die Scharia, die mit der islamischen Revolution zur Grundlage
des Zivil- und Strafrechts wurde. Heute hat sich Purvasel auf von Frauen
eingereichte Scheidungen und die Wahrung ihrer Rechte spezialisiert.
Die offensichtlichen Benachteiligungen der Frau im Scheidungsrecht blieben
das Hauptproblem der Gesetzgebung, erklärt Purvasel. Während
die Iraner seit der islamischen Revolution ihre Gattinnen ohne Angabe
von Gründen jederzeit verstossen dürfen, können Iranerinnen
nur mit mindestens einer von zehn streng definierten Begründungen
die Scheidung einreichen. Zu diesen gehören neben unheilbarer Krankheit
und Unfruchtbarkeit des Mannes auch Gefängnisstrafen von mehr als
fünf Jahren oder Straftaten wie beispielsweise Drogenschmuggel.
Wird ihr die Scheidung bewilligt, muss die Frau neben der Rückgabe
ihres Brautpreises auf alle finanziellen Absicherungen und Unterstützungen
verzichten.
Für eine durch den Mann verstossene Frau habe sich die Situation
in den vergangenen Jahren durch die Bemühungen mehrerer Anwalts-
und Frauengruppen etwas verbessert, erläutert Purvasel. Während
sie nach der Revolution nur ihr Brautgeld zurückbekam, erhält
sie nun ausserdem eine Unterhaltszahlung; bei beidem werden heute die
Inflation und die finanzielle Situation des Mannes berücksichtigt.
Eine Besonderheit der schiitischen Auslegung der Scharia sei das Erziehungsrecht,
fährt Purvasel fort. Laut Gesetz kehren bei einer Scheidung die
Buben bereits mit zwei Jahren und die Mädchen mit sieben Jahren
zum Vater zurück. Auch hier habe der Trend, die Scharia dynamisch
zu interpretieren, einen gewissen Fortschritt gebracht. So wurde 1998
ein Präzedenzfall geschaffen, als ein Gericht einen Vater auf Grund
seiner Verhältnisse für unfähig erklärte, für
die Kinder seiner verstossenen Frau zu sorgen. Es entschied, dass sie
bis zur Volljährigkeit bei ihr bleiben dürfen.
Genussehe und Prostitution
Vor dem Cinema Amir in Teherans Innenstadt herrscht dichtes Gedränge.
Sowohl Männer, Ehepaare und Familien als auch einzelne Frauen und
Jugendliche wollen den Kinohit "Giftpflanze" sehen, der mit
einigen Tabus der iranischen Gesellschaft abrechnet. Der eigentlich
glücklich verheiratete Held lernt im Spital, wo sein Geschäftspartner
schwer verletzt liegt, die Oberschwester kennen. Die beiden verlieben
sich und einigen sich darauf, einen "Sighe-Vertrag" abzuschliessen.
Im Saal beginnt man zu raunen und zu tuscheln - es scheint sich um ein
bekanntes Phänomen zu handeln. "Sighe" oder arabisch
"Mutaa" ist im Islam die Ehe auf Zeit oder die Genussehe.
"Sie wird vertraglich auf einem Polizeiposten für eine bestimmte
Zeit festgelegt", erklärt flüsternd die Schriftstellerin
und Feministin Landan Mehrpur, "nämlich von einer Stunde bis
zu maximal 99 Jahren. Deshalb sind die Grenzen zur legalisierten Prostitution
fliessend." Natürlich glaubt die Oberschwester, dass ihr Sighe-Vertrag
irgendwann in einen richtigen Ehekontrakt umgewandelt werde, doch stattdessen
flieht ihr Mann und lässt sie einsam und schwanger sitzen.
Auch mit der im Prinzip streng verbotenen Prostitution wird der Held
konfrontiert. Während er im Auto auf seine erste Frau und seine
Kinder wartet, steigt plötzlich eine zwar verhüllte, aber
stark geschminkte Frau ein. Wieder braust im Saal empörtes Murmeln
auf. "Lass uns losfahren", meint die Frau. Der Held fragt
naiv und verständnislos: "Wohin?" Sie entschuldigt sich
und steigt wieder aus. Mehrpur wispert, dass die mondäne Jordanstrasse
im Norden Teherans jeden Abend von Mädchen und Frauen geradezu
gesäumt sei; Autos mit Freiern führen auf und ab, um sie zu
begutachten. Auch ihnen gebe ein einstündiger Sighe-Vertrag Sicherheit.
Schliesslich sei er auch unter Studentenpärchen üblich, die
bei ihren harmlosen gemeinsamen Spaziergängen die Basij- Kontrollen
fürchteten.
Beim Verlassen des Kinos sagt unsere Begleiterin nachdenklich, wenn
ein solcher Film erlaubt sei, bedeute das, dass eine öffentliche
Debatte um die Thematik Ehe, Scheidung, Sighe und Prostitution nur noch
eine Frage der Zeit sei. Doch danach stehe die weit schwierigere und
den meisten Iranern heute utopisch erscheinende Auseinandersetzung um
die legitimen sexuellen Ansprüche der Frau bevor. In dieser müsste
nicht nur das Recht auf voreheliche Beziehungen angepackt werden, sondern
auch das auf Abtreibung, das auf die Austragung eines unehelichen Kindes
und schliesslich das auf die offen ausgelebte Homosexualität.
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