taz 12.7.2000 Chatami für Aussöhnung Der iranische Staatspräsident wird heute in einer programmatischen Rede in Weimar für die Versöhnung von Tradition und Moderne plädieren. Reformen nennt er soziale Experimente BERLIN taz Bei der wichtigsten Rede während seines Deutschlandbesuchs wird Irans Staatspräsident Mohammad Chatami heute seine Reformbemühungen als ein "neues Experiment" verteidigen. Im Redemanuskript, das der taz vorliegt, heißt es: "Reformen sind die Verteidigung der Menschenrechte und Aufforderung zu Rationalität und Vernunft. Sie sind die Verteidigung der Bürgerrechte und die Bemühung um die soziale Gerechtigkeit." Chatami wird seine Rede am Nachmittag in Weimar halten, als Einleitung zu einer Diskussion über den "Dialog der Kulturen", an der auch Bundespräsident Johannes Rau teilnehmen wird. Zuvor werden die Staatsoberhäupter ein gemeinsames Denkmal für den altpersischen Dichter Hafis und den in Weimar beerdigten Johann Wolfgang von Goethe enthüllen. Am Abend wird Chatami, der sich drei Tage in Deutschland aufhielt, nach Teheran zurückfliegen. Chatami kritisiert in seiner Rede ausdrücklich die Dominanz der westlichen Welt: "Der Glaube an eine bipolare Welt und das Aufgehen aller Kulturen und Zivilisationen in der herrschenden Kultur der Welt ist eine andere Variante dieser ethnozentrischen und fanatischen Sichtweise." Mit Rücksicht auf seine Gegner im Iran plädiert der Staatspräsident nicht nur für eine Versöhnung von Ost und West, sondern auch von Tradition und Moderne: "Solange die Tradition und die Moderne sich als absolut betrachten und sich als das absolut Gute und die anderen als das absolut Böse bezeichnen, können sie weder sich selbst noch das andere erkennen." Die Reformen müssten "im Einklang mit den Menschen von heute und morgen" geschehen. Offenbar wünscht der Präsident sich dabei auch die Unterstützung der internationalen Staatengemeinschaft: "Bei diesem Experiment brauchen wir die Zusammenarbeit aller Denker und Gesellschaften." Die heute oft anzufindende Form "negativer Toleranz" zwischen Ost und West kritisiert Chatami als unzureichend. Im Mittelpunkt des zweiten Tages des Deutschlandbesuchs von Chatami standen gestern die Wirtschaftsbeziehungen beider Länder. Der Staatspräsident äußerte die Hoffnung auf eine "neue Phase" in der Zusammenarbeit. Es gebe "in unseren beiden Ländern gegenwärtig günstige Bedingungen für die Ausweitung, Vertiefung und Vielfalt der Wirtschaftsbeziehungen", betonte der Gast laut vorab verbreitetem Redetext. PATRIK SCHWARZ taz Nr. 6190 vom 12.7.2000 Seite 3 Foto-Text Mohammad Chatami, 57, Staatsoberhaupt des Irans. Mit tadelloser Robe, gepflegtem Bart und verbindlichen Umgangsformen. Der Sohn des Ajatollah Ruhollah Chatami absolvierte eine Koran-Ausbildung in der für Schiiten heiligen Stadt Kom. Zudem machte er Abschlüsse in Philosophie und Erziehungswissenschaft. Ein Intellektueller, der sich aber zumindest in seiner Grammatik den Prinzipien der islamischen Geistlichkeit verpflichtet. In den 70er-Jahren unterstützte Chatami, damals Leiter des Islam-Zentrums in Hamburg, die muslimische Opposition gegen den Shah. Nach der Revolution im Jahr 1979 wurde er Abgeordneter im Teheraner Parlament. 1982 wurde er Minister für Kultur und Islam. In den folgenden Jahren ging er zunehmend auf Distanz zu den sittenstrengen Mullahs, was 1992 zum offenen Bruch mit den Machthabern führte. 1997 wurde er gegen den Favoriten der Fundamentalisten zum Präsidenten gewählt.
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