Neue Zürcher Zeitung, 14. Juli 2000

Mediale "Ghettos" als Integrationshilfe
Reethnisierung des Medienkonsums in Deutschland?

In Deutschland werden kommerziell ausgerichtete Medien gegründet, die sich an die dort lebenden Türken richten. Beobachter befürchten, dass sich mediale Ghettos mit zentrifugaler Wirkung herausbilden. Es gibt aber gute Argumente für den gegenteiligen Effekt.

"Max", das mittlerweile mehrfach renovierte ehemalige Flaggschiff der Lifestyle-Magazine, sollte einen kleinen Bruder bekommen: "Etap" wollte von Berlin aus erkunden, "wo das deutschtürkische Leben tobt", und dabei eine ähnliche Mischung wie das deutsche Vorbild bieten: Geschichten von erfolgreichen jungen Männern und Frauen, "City-Guides" mit Informationen über den "Oriental Lifestyle", selbstironische Kolumnen und viel Service. Strenge Liebhaber der multikulturellen Gesellschaft werden sich gefreut haben, dass diese ethnisch abgetönte Kopie deutscher Lifestyle-Publizistik vor einigen Wochen das Erscheinen einstellen musste. Der Versuch, vermutete ethnische Vorlieben kommerziell zu nutzen, missfiel manchem ebenso wie der Betrieb des türkischsprachigen Senders "Radyo 94.8, Metropol FM", der seit dem letzten Jahr die 200 000 Hörer türkischer Herkunft in und um Berlin mit den Wonnen des Dudelfunks versorgt.

Türken als begehrte Zielgruppe

In Nordrhein-Westfalen hat sich eine türkische Unternehmensgruppe um eine Mittelwellenfrequenz beworben, um ein ähnliches Angebot für westdeutsche Ballungsräume auszustrahlen. Und auch "Haftalik Posta", das im Rheinland und in Teilen des Ruhrgebiets mit einer Auflage von etwa 60 000 Exemplaren vertriebene Anzeigenblatt in türkischer Sprache, ist kein Medium mit publizistischem Auftrag, sondern dient rein kommerziellen Zwecken: Gerade Konsumenten türkischer Herkunft gelten als ausgesprochen qualitätsbewusst und markentreu, was sie zu einer begehrten Zielgruppe macht.

Für die links-alternative "taz", die nach Presseberichten eine eigene türkische Beilage planen soll, sind das Zeichen für einen "Paradigmenwechsel" auf dem Markt der Medien für ethnische Minderheiten in Deutschland: "Der Prototyp dieser Entwicklung ist nicht mehr der Journalist, sondern der Sales-Manager", bemerkte jüngst das Blatt übellaunig.

Explosionsgefahr?

Plötzlich häufen sich in den Programmen evangelischer Akademien, wissenschaftlicher Institute und journalistischer Fachverbände die Kongresse, auf denen die neue Medienentwicklung sorgenvoll und stirnrunzelnd erörtert wird. Eine Reethnisierung des Medienkonsums stelle "neue Herausforderungen an die Integrationsfunktion von Presse und Rundfunk". Mediale Ghettos, die plötzlich von geschäftstüchtigen Verlagsmanagern entdeckt und ausgebeutet werden, stärken nach Ansicht einschlägiger Bedenkenträger nur die Tendenzen zur Etablierung ethnisch fundierter Parallelgesellschaften mit angeblich explosiven Folgen fürs Gemeinwesen.

Die Wirklichkeit ist vermutlich weniger dramatisch. Dass die türkische Minderheit in Deutschland schon aus Gründen eingeschränkter Sprachkompetenz im Deutschen sich überwiegend in Medien des Herkunftslandes informiert, ist keine neue Entdeckung. 9 Tages- und 2 Wochenzeitungen aus der Türkei stellen die bevorzugten Printmedien der Immigranten und ihrer Familien dar. Rund 20 türkische TV-Programme sind mittlerweile über Kabel und Satellit zu empfangen und machen es einfach, mit dem Kopf in Antalya und den Beinen in Castrop-Rauxel zu leben. Aber immerhin lesen nach einer Untersuchung des Essener Instituts für Türkeistudien fast 40 Prozent der Deutschtürken auch deutsche Zeitungen und sehen zu über 50 Prozent auch deutsches Fernsehen.

Kai Hafez, wissenschaftlicher Mitarbeiter des Deutschen Orient-Instituts in Hamburg, warnte auf einer Tagung der Evangelischen Akademie Loccum vor einer einfachen Betrachtungsweise, die die neue Entwicklung von Ethnomedien für in Deutschland lebende Immigranten nur als Abweichung von einem starren Integrationsmodell wahrnimmt. Für ihn wird "die Zukunft der multikulturellen Gesellschaft auf einem komplexen Wechselspiel von alten und neuen Kulturformen und kulturell beeinflussten Gesellschaftsorientierungen beruhen". Gerade unter den Bedingungen von Migration und Globalisierung könne nicht einmal die Hinwendung der Einwanderer zu den Medien der Herkunftsländer einfach "als Zeichen der Abwehr gegen die neue Gesellschaft und Kultur" gedeutet werden. In diesem Medienkonsum, so glaubt Hafez, formieren sich "virtuelle nationale Gemeinschaften", die "der Aufrechterhaltung der eigenen gesellschaftlichen Artikulationsfähigkeit" dienen können und damit die Voraussetzung für staatsbürgerliche Teilhabe schaffen.

Hybridkulturen angemessen wahrnehmen

Anstatt Medien und Immigranten nur unter dem Aspekt fixer nationaler Identitäten zu betrachten, plädiert Hafez für einen differenzierenden Blick, der offen ist für sozialen und kulturellen Wandel. Nur so könne man die entstehenden Hybridkulturen angemessen wahrnehmen.

Die Ethnologin Vera Kaya plädiert dafür, nicht "nach dem Alles-oder-nichts-Prinzip die Frage nach der Integration" zu diskutieren, sondern eher die "stabilen Zwischenlagen" zu erkunden, in denen etwa junge Deutschtürken sich die Anerkennung holen, die ihnen unter blossem Assimilationsdruck versagt werde. In diesen Hybridkulturen gehört der Wechsel zwischen den Sprachen ebenso zum Alltag wie der zwischen den unterschiedlichen Medien.

Insofern schafft das "Ethno-Marketing", das deutschtürkische Zielgruppen in Deutsch oder in Türkisch für Lifestyle-Magazine, Radioprogramme und Anzeigenblätter erschliessen will, wohl mehr multikulturelle Selbstverständlichkeiten, als dies öffentlichrechtliche Groschengräber vom Typ "Funkhaus Europa" tun. Dieser multikulturellen Radioutopie des WDR ohne klare Zielgruppe fehlen ebenso die Hörer wie den modifizierten "Gastarbeiterprogrammen" der ARD. In Marktgesellschaften sind erfolgreiche Medien auch Gewerbebetriebe, konstituieren sich neue Öffentlichkeiten auch über kommerzielle Interessen.

Wie "Etaps" Pleite zeigt, unterliegen die Erfolgschancen solcher deutschtürkischer Magazine und Radiosender dem unternehmerischen Risiko. Klar ist aber, dass sich solche Medien um Bodenhaftung in der Lebenswelt der deutschen Gesellschaft bemühen müssen, um ihren Lesern und Hörern einen Mehrwert zu bieten, den sie in "Hürriyet" und "TRT International" nicht finden. Das fördert ebenso die Integration wie der Verzicht auf den ruppigen Nationalismus, der oft die türkischen "Heimatzeitungen" prägt. Und warum soll sich hier nicht auch ein Milieu deutschtürkischer Journalisten herausbilden, aus dem sich dereinst die Redaktion einer deutschtürkischen Tageszeitung rekrutieren könnte?

Wie das Beispiel der in Berlin herausgegebenen Wochenzeitung "Russkij Berlin" (bundesweit als "Russkaja Germanija" vertrieben) beweist, muss das keine Utopie sein. Das vor allem über Anzeigen finanzierte Blatt versteht sich als deutsche Zeitung in russischer Sprache und bietet neben Politik und Wirtschaft viel Kultur und Service. 1996 gegründet, setzt "Russkij Berlin" mit den beiden Ausgaben heute 50 000 Exemplare ab und erreicht die weiterhin wachsende Gemeinde von Immigranten aus der ehemaligen Sowjetunion. Dieser Erfolg macht mutig: In einem Pressegespräch kündigte jetzt der Herausgeber an, demnächst auch ein russisches Radio zu gründen. Man wird sich daran gewöhnen, dass die Berliner Republik mit verschiedenen Stimmen spricht, die keine paternalistische Multikulti-Pflege brauchen, wenn sie die vielfältigen Interessen ihrer Leser ansprechen können.

Heribert Seifert