Neue Zürcher Zeitung, 15. Juli 2000 Zeugma - eine antike Stadt versinkt in türkischem Stausee Energie und Wasser auf Kosten der Kultur Wie vor einigen Jahren Samosata, die Hauptstadt der Kommagene, im Atatürk-Stausee versunken ist, so geht heute das antike Zeugma vor den Augen einer schockierten Öffentlichkeit in den Fluten des gestauten Euphrat unter. Unerbittlich steigt das Wasser hinter dem türkischen Birecik-Staudamm und zerstört - trotz weltweiten Protesten - einmalige Zeugnisse der Vergangenheit. Der Birecik-Staudamm nahe der Grenze zu Syrien ist Teil eines milliardenschweren türkischen Prestigeunternehmens. Begonnen in den sechziger Jahren, soll dieses umstrittene Südostanatolien-Projekt mit insgesamt 22 Staudämmen einerseits die türkischen Grossstädte mit Energie versorgen und andererseits dem schwach entwickelten Osten mit Bewässerungsanlagen auf die Beine helfen. Erbaut im 4. Jahrhundert v. Chr. durch den Begründer des Seleukidenreiches Seleukos I., liegt Zeugma - heute muss man sagen lag - zu beiden Seiten des Euphrat. Seleukos benannte die Doppelstadt nach sich selbst und seiner Frau Apamea: Seleukia Apamea. Eine Brücke über den Euphrat verband die beiden Stadtteile. Und diese Brücke brachte der Stadt ihren ausserordentlichen Reichtum. Zeugma, wie der Ort später genannt wurde, entwickelte sich zu einem blühenden Emporium und lebhaften Verkehrsknotenpunkt und galt schliesslich als Zentrum der hellenistischen Kultur in Mesopotamien. In römischer Zeit gehörte Zeugma zur Provinz Syria und erhielt als Grenzort ein Militärlager zu seinem Schutz; zahlreiche luxuriöse Villen entstanden in dieser Zeit in der Stadt und ihrer Umgebung. Nach der Eroberung durch die Perser zerfiel sie nach und nach und geriet in Vergessenheit. Erst vor kurzem ist es der archäologischen Forschung gelungen, die heutigen kurdischen Dörfer Belkis und Tell Musa als ferne Nachkommen von Seleukia und Apamea zu identifizieren. Besonders die reichen archäologischen Funde aus der Römerstadt haben Zeugma in Fachkreisen und leider auch unter Raubgräbern bekannt gemacht. Es ist ein offenes Geheimnis, dass der Schwarzmarkt des Antiquitätenhandels schon seit Jahren mit Raubgut aus Zeugma beliefert wird. Seit bekannt ist, dass die Fundstätte überflutet werden soll, ist sie quasi zur Plünderung freigegeben. Den Archäologen sind die Hände gebunden, fehlen doch Geld und Personal, die Stätte adäquat zu schützen. Es geht aber nicht allein um Zeugma, das mit seinen bunten Mosaiken, den Bronzestatuen, Silbermünzen und kunstvoll verzierten Grabsteinen nur die Spitze eines Eisbergs bildet. Es geht um einen Teil des Fruchtbaren Halbmonds, der in Gefahr ist, in den Fluten verschiedener Stauseen endgültig unterzugehen. Der Fruchtbare Halbmond ist die Wiege zahlreicher kultureller Errungenschaften der Menschheit. Viele revolutionäre Neuerungen haben hier ihren Ursprung, denken wir nur an die Neolithisierung mit Ackerbau und Viehzucht. Hier gelang erstmals das Züchten von Ziegen und Schafen oder das Kultivieren von Gerste und Weizen; hier wurde die Technik des Brennens von Tongefässen entwickelt. Alle diese Vorgänge sind erst in groben Umrissen bekannt, im Detail aber noch keineswegs abschliessend erforscht. Tiefere Erkenntnisse sind nur durch weitere Ausgrabungen vor Ort zu gewinnen. Das wäre nicht schwierig, denn das Gebiet ist überaus reich an archäologischen Fundstellen aus allen Epochen. Beispielsweise Hacinebi: eine Neuentdeckung wenige Kilometer nördlich von Zeugma. Die Siedlung soll über 5000 Jahre alt und mit Ur und Uruk vergleichbar sein. Sie könnte ein völlig neues Licht auf die Beziehungen zwischen Kurdistan und Mesopotamien werfen, wird aber vermutlich ebenfalls in den Fluten versinken und für weitere archäologische Forschungen nicht mehr zugänglich sein. Hacinebi wäre für die Erforschung der ältesten stadtähnlichen Siedlungen im Fruchtbaren Halbmond von viel grösserer Bedeutung, als es Zeugma für die römische Militärarchitektur je gewesen ist. Auch in jüngeren Baudenkmälern wie der Armenierfestung und späteren Kreuzfahrerburg Rumkale werden sich bald nur noch die Fische tummeln. Verzweifelt, aber zu spät haben sich die Archäologen an die Öffentlichkeit gewandt. Auch ein dramatischer Appell an die Unesco verhallte ungehört. Ein lächerlicher Aufschub von zehn Tagen gewährte Ankara, bevor es die Schleusen öffnen liess. Zehn Tage für eine Arbeit, die mehrere Jahre in Anspruch genommen hätte! Auch Schweizer Forscher sind bei diesen Rettungsaktionen mit von der Partie gewesen. Ein Team des Historischen Instituts der Universität Bern hat nach dem römischen Legionslager gegraben. Laut Heinz Herzig sei dann allerdings an der Ausgrabungsstelle nicht das grosse Legionslager, sondern ein kleiner Aussenposten zum Vorschein gekommen; heute lägen seine Ruinen bereits unter Wasser. Das offizielle Ankara scheint nicht interessiert. Samosata wie Zeugma und andere Stätten stehen auf kurdischem Gebiet. Nicht weit von Zeugma liegt Ömerli, der Geburtsort des Kurdenführers Abdullah Öcalan. Allerdings befindet sich das Dorf in sicherer Lage auf einer Hochebene, bleibt also von den Fluten verschont. Es ist offensichtlich, dass von Regierungsseite bezüglich der archäologischen Fundstellen nicht getan wurde, was hätte getan werden müssen. Abgesehen davon, dass Tausende von kurdischen Bauernfamilien ihre Lebensgrundlage verlieren, wird ihnen mit der Überschwemmung ihrer Dörfer auch ein Teil ihrer Geschichte und Identität entzogen. Ankara hat wohl deswegen kein grosses Interesse an archäologischen Forschungen in diesem Gebiet. So zielt der Aufschrei, der wegen des Untergangs von Zeugma kürzlich durch die Weltöffentlichkeit ging, letztlich an der eigentlichen Katastrophe vorbei. Natürlich ist der Verlust einer antiken Stadt für die archäologische Forschung ein Drama; ein Drama allerdings, das nach Stefanie Martin-Kilcher vom Institut für Provinzialrömische Archäologie an der Universität Bern, hinter dem menschlichen Drama zurückzustehen habe. Die nicht überfluteten Hänge des Euphrattals bleiben auch weiterhin Gegenstand archäologischer Forschungen. Das Berner Team wird seine Suche nach dem römischen Legionslager fortsetzen und auf Grund von Bodenprospektionen und Satellitenbildern an einer vielversprechenden Stelle weiter graben, sofern die nötigen finanziellen Mittel dazu beschafft werden können. Geneviève Lüscher
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