Bremer Nachrichten, 17.7.2000 Ein mäßiges Zwischenzeugnis? Türkei kommt mit EU-Beitrittsvorbereitungen nur schleppend voran Von unserer Korrespondentin Susanne Güsten Istanbul. Mit großer Begeisterung feierte die Türkei im vergangenen Dezember nach dem Gipfel von Helsinki die Ernennung zur offiziellen EU-Beitrittskandidatin. "Jetzt sind wir Europäer", schrieben die Zeitungen damals. Doch inzwischen ist die Euphorie längst verflogen. Die quälend lange Suche nach einem neuen Staatspräsidenten im Frühjahr und innenpolitische Ränkespiele zwischen den Koalitionspartnern in Ankara sorgten dafür, dass nur wenige der für einen EU-Beitritt nötigen Reformen angepackt wurden. EU-Erweiterungskommissar Günter Verheugen zieht seit dem gestrigen Donnerstag und heute mit der Führung in Ankara eine Zwischenbilanz des türkischen Europa-Strebens. Dabei ist allen Beteiligten klar, dass sich die Türkei vor wirklich schmerzhaften Entscheidungen bisher gedrückt hat. Auf dem Gebiet der Kopenhagener Kriterien für Demokratie und Menschenrechte habe die türkische Regierung "noch keinen einzigen konkreten Schritt unternommen", schimpfte die Zeitung "Hürriyet" am Mittwoch. Zwar wird in Ankara viel diskutiert, doch geschehen ist bislang so gut wie nichts. Deshalb will Ecevit jetzt Gas geben. Nach der parlamentarischen Sommerpause im Oktober werde die Todesstrafe abgeschafft und die türkische Verfassung geändert, um sie den EU-Normen anzupassen, versprach er bereits vor dem Besuch Verheugens. Leicht gesagt - doch wenn er seine Ankündigungen wahrmachen will, hat Ecevit einen arbeitsreichen Sommer vor sich. Beim Thema Todesstrafe etwa stellt die rechtsnationale Regierungspartei MHP Bedingungen. Zudem gibt es hinter den Kulissen heftigen Streit zwischen Politikern, Militärs und Bürokraten über die Kurdenpolitik und die Frage, ob und in welchem Ausmaß die Beschränkungen der Meinungsfreiheit in der Türkei gelockert werden müssen. Immerhin will Ankara jetzt Ordnung in das Kompetenz-Wirrwarr bringen, das bisher in der türkischen Europapolitik herrschte. Ex-Ministerpräsident Mesut Yilmaz soll ins Kabinett eintreten und als Vize-Premier ein neu geschaffenes Generalsekretariat für EU-Fragen leiten: Damit hat die Türkei erstmals in ihrer Geschichte einen Europa-Minister. Auch gibt es beim Thema Menschenrechte erste Fortschritte. So gibt es immer weniger Fälle von Menschen, die nach einer Festnahme durch die Polizei spurlos verschwinden. Zudem werden Menschenrechtsverletzungen offener diskutiert als noch vor einem Jahr: Zum ersten Mal ließ das türkische Parlament kürzlich Fälle von Folterungen und Misshandlungen zusammentragen und veröffentlichen. In ihren Gesprächen mit Verheugen verweisen Ecevit, Präsident Ahmet Necdet Sezer und Außenminister Ismail Cem auf diese Fortschritte. Ob sie den Gast aus Brüssel damit überzeugen konnten, ist noch nicht bekannt. Ein halbes Jahr nach Helsinki muss sich die Türkei auf ein eher mäßiges Zwischenzeugnis gefasst machen.
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