Neue Luzerner Zeitung (CH), 17.7.2000

Ankara: Kopenhagener Kriterien machen türkischen Politikern schwer zu Schaffen

Türkei kann nur eine magere Reformbilanz vorweisen

EU-Kommissar Günther Verheugen gab sich in Ankara höchst diplomatisch. Doch die politischen Reformen fielen bisher mager aus.

Er sei glücklich über türkische Fortschritte zur Anpassung an die EU-Kriterien, betont der für die EU-Erweiterung zuständige Europakommissar Verheugen bei Gesprächen in Ankara. Die EU habe deshalb die Finanzhilfe zur Unterstützung des Reformprozesses auf 180 Millionen Euro für dieses Jahr verdoppelt. Bis Oktober will die EU das "Beitritts-Partnerschafts-Abkommen" erarbeiten, das die von Ankara noch zu erfüllenden Bedingungen für den Beginn der Aufnahmeverhandlungen auflisten wird. Auch die Türken müssen ihre Liste von Reformen präsentieren, die sie zur Erfüllung der Kopenhagener Kriterien (von der EU für ihre Mitglieder festgesetzten politischen und ökonomischen Standards) realisieren will.

Magere Reformbilanz

In Wahrheit aber sieht die Bilanz des bisherigen Anpassungsprozesses äusserst mager aus. Während die Türkei auf dem Wirtschaftssektor die grössten Erfolge aller dreizehn Aufnahmekandidaten erzielte, hinkt sie bei der Demokratisierung beängstigend hintennach. Der einzige Fortschritt, den Ankara in diesem Bereich im vergangenen Halbjahr erzielte, ist der Beginn einer lebhaften Debatte in der Öffentlichkeit selbst über Themen, die bisher als tabu gegolten hatten: die Rolle der Militärs, heikle Fragen der Menschenrechte und der Meinungsfreiheit. Ein Mangel an politischer Führung gegenüber Europa und heftige Auseinandersetzung innerhalb des Staatsapparates über das Ausmass der von der EU geforderten Reformen lassen das von Ankara ehrgeizig als Ziel gesetzte Beitrittsdatum 2004 aber als unerfüllbar erscheinen. Die Entscheidung Premier Ecevits, seinen Vorgänger und Juniorpartner in der Koalition, Mesut Yilmaz, als stellvertretenden Minister ins Kabinett aufzunehmen und die Führung der EU-Politik zu übertragen, ermutigt zwar Europafreunde am Bosporus. Während der auf dem diplomatischen Parkett Europas bewanderte Yilmaz selbst zu den entschlossensten Verfechtern der EU-Mitgliedschaft zählt, gibt es in den Reihen der "Demokratischen Linkspartei" Ecevits und dessem grossen Koali tionspartner, der "Partei der nationalistischen Bewegung" (MHP), beträchtlichen Widerstand gegen Brüssel.

Nationalisten bremsen

Unter Nationalisten, wie auch im Militär, hegt man bis heute eine ausgeprägte Abneigung gegen alles, was als Einmischung des Auslandes gewertet werden könnte. "Mächtige Kräfte innerhalb dieser Gesellschaft sind äusserst misstrauisch gegenüber Europa", schrieb jüngst das Massenblatt "Star". "Sie können den Anpassungsprozess drastisch verzögern, und genau das tun sie derzeit." So sprach der "Nationale Sicherheitsrat" (das von den Militärs dominierte höchste Entscheidungsorgan) jüngst von "subjektiven und exzessiven Demokratisierungsforderungen" der EU, die die "nationale Einheit" der Türkei zerstören würden.

Kurdenfrage im Zentrum

Wie stets stellt sich die Kurdenfrage als Hauptproblem. Während Aussenminister Cem eben beteuerte, dass es niemals in diesem Lande ethnische Minderheiten gegeben hätte, stellte auch der Nationale Sicherheitsrat klar, dass die Kurden nicht auf die auch von der EU erwünschte Anerkennung als Minderheit hoffen könnten, ja nicht einmal auf Radio und Fernsehen oder Schulen in ihrer Sprache. Auch zur Abschaffung der Todesstrafe ­ ein weiteres Hauptanliegen Brüssels ­ konnte sich Ankara bisher ebenso wenig durchringen, wie zur Annullierung des die Meinungsfreiheit krass einschränkenden Strafrechtsparagraphen 312, auf dessen Basis Hunderte Islamisten, Kurden, linksgerichtete Politiker und Menschenrechtsaktivisten zu Gefängnisstrafen verurteilt wurden.

EU-Beitritt bleibt Ziel

Dennoch, für die Mehrheit des türkischen Establishments ist der EU-Beitritt ein strategisches Ziel, das auch ­ laut einer jüngsten Umfrage ­ die überwiegende Mehrheit der Bevölkerung unterstützt. Doch Realisten zweifeln nicht daran, dass es für die nötigen Reformen noch eines langwierigen Umdenkungsprozesses bedarf.

BIRGIT CERHA, NIKOSIA