taz 22.7.2000

Nierenonkel Xu und die China-Gang

Italiens Polizei hebt eine "kriminelle Vereinigung" aus, die in neun Monaten 5.000 Chinesen ins Land geschleust hatte.

Mit Folter, möglicherweise sogar erzwungenen Organspenden, wurden die überschuldeten Migranten gefügig gehalten

aus Rom MICHAEL BRAUN

"Engel" oder einfach nur "Onkel" ließ sich Xu Bailing von seinen Landsleuten nennen. Doch sein Business war keineswegs harmlos. Der 44-jährige in Triest lebende Chinese wurde am Mittwoch von der italienischen Polizei zusammen mit 40 Komplizen verhaftet. Vorgeworfen wird der Gruppe, sie habe in nur neun Monaten etwa 5.000 Menschen aus China nach Italien geschleust und dabei umgerechnet 130 Millionen Mark verdient.

Der Menschenhandel erfolgte in einem weit verzweigten Netzwerk, wie die Anti-Mafia-Staatsanwälte mitteilten, die bei ihrer unter dem Namen "Orient eins" laufenden Aktion jetzt in gleich 15 italienischen Städten zuschlugen. Zunächst wurden die Kunden des "Engels" per Linienflug von Peking nach Kiew oder Belgrad gebracht; dort wurden sie von lokalen Banden übernommen, die die Flüchtlinge per Lastwagen nach Slowenien oder Kroatien verfrachteten, von wo aus der Grenzübertritt nach Italien organisiert wurde. Einmal im Zielland angekommen, wurden die Immigranten erneut von der Bande Xu Bailings übernommen.

Triests Staatsanwalt Nicola Maria Pace beabsichtigt, die Mitglieder der Gang und ihre kroatischen Partner nicht nur wegen "Bildung einer kriminellen Vereinigung" und "Förderung illegaler Einwanderung" anzuklagen, sondern auch wegen Entführung. Denn nach Aussagen einiger geständiger Mittäter begann für die Eingeschleusten nach der Ankunft in Italien ein wahrer Leidensweg. Wer nicht in der Lage war, den "Reisepreis" von umgerechnet 26.000 bis 30.000 Mark zügig zu entrichten, wurde gefangen gehalten, bis die Verwandten ihn auslösten. Zudem wurden die Entführten offenbar systematisch misshandelt, um den Druck auf die Angehörigen zu erhöhen. Sie waren oft gezwungen, am Telefon die Folterungen mitzuverfolgen. 40 gefangene Immigranten konnte die Polizei in Bologna, Monza, Genua und Bérgamo befreien.

Staatsanwalt Pace glaubt aber auch Elemente für den Verdacht in der Hand zu haben, dass Xu Bailing neben Menschenschmuggel auch Organhandel betrieben habe. Pace sprach von "schwachen, aber signifikaten Signalen" dafür, dass die Bande sich von zahlungsunfähigen Immigranten mit einer Niere entlohnen ließ. Aber auch die Möglichkeit, dass einige der illegalen Einwanderer in Italien umgebracht wurden, schloss der Staatsanwalt nicht aus. "Wenn man eine Person beseitigen will, braucht man keine große Infrastruktur", sagte er. "Dafür reicht ein Kühlraum, dazu zwei bis drei Leute, die die Arbeit erledigen. Aber im Moment handelt es sich bei diesem Verdacht nur um eine Arbeitshypothese."

Weiterhin versuchen Tausende Menschen aus der Dritten Welt, auf allen Wegen nach Italien und damit nach "Schengen-Land" zu gelangen. Am Donnerstag lief ein unter der Flagge des westafrikanischen Inselstaates São Tomé & Príncipe fahrendes Schiff den Hafen von Réggio die Calábria an; an Bord waren 558 Personen vor allem kurdischer Herkunft, unter ihnen gut 200 Kinder. Für die fünftägige Reise von der Türkei nach Italien, auf der es nicht einmal Trinkwasser gab, mussten die Einwanderer pro Kopf 3.000 Dollar zahlen (über 6.000 Mark) - nur um jetzt wieder ausgewiesen zu werden.

Die Zeiten, als Italien eine Hintertür nach Europa darstellte, sind vorbei. Während Italien in der ersten Hälfte dieses Jahres nur 14.000 "irreguläre" Einreisen verzeichnete - gegenüber 30.000 im gleichen Vorjahreszeitraum -, schnellte die Zahl der Abschiebungen auf 34.000 hoch. Zugleich klagt die Wirtschaft, die bestehenden Quoten für legale Einwanderung seien zu niedrig.