Frankfurter Rundschau, 24.07.2000

Wie die Europäer sicherheitspolitisch erwachsen werden wollen
Über die Perspektiven der Beziehungen zwischen EU und Nato und eine neue Rollenverteilung /
Oliver Thränert über Europa als Militärmacht

Seit den EU-Gipfeln von Köln und Helsinki hat die außenpolitische und militärische Dimension der Europäischen Union erheblich an Dynamik gewonnen. Wegen der Erfahrungen während des Kosovo-Krieges stehen dabei Fragen des zivilen und militärischen Krisenmanagements im Vordergrund. Eine der politisch brisantesten ist dabei sicherlich: Wie sollen sich die Beziehungen der EU zur Nato und den Vereinigten Staaten entwickeln? Mit einem Beitrag von Oliver Thränert setzen wir unsere Europa-Serie fort. Der Autor ist außen- und sicherheitspolitischer Experte der Friedrich-Ebert-Stiftung, Berlin, und Lehrbeauftragter am Otto-Suhr-Institut der Freien Universität Berlin.

Der Dialog zwischen den USA und den europäischen Alliierten gestaltet sich derzeit schwierig. Diesseits und jenseits des Atlantiks haben sich in den vergangenen Jahren unterschiedliche sicherheitspolitische Diskurse entwickelt. Amerikaner und Europäer stimmen in vielen Fragen nicht mehr überein. Dies betrifft sowohl die Einschätzung von Bedrohungen als auch die Instrumente zum Umgang mit ihnen. So halten Europäer die amerikanischen Befürchtungen im Hinblick auf die Verbreitung von ABC-Waffen und modernen Trägertechnologien oft für übertrieben. Statt dessen konzentriert sich Europa fast ausschließlich auf ethnische Konflikte wie auf dem Balkan.

Während in Washington Rüstungskontrolle von vielen nicht mehr als wesentliches Element der Sicherheitspolitik angesehen wird, hält Europa an ihrer überragenden Bedeutung fest. Amerika setzt eher auf militärische Instrumente, wie zum Beispiel auf Raketenabwehr. Europa bleibt dahingehend zögerlich und hebt die Bedeutung des politischen Dialoges mit Staaten wie Iran hervor.

Mit anderen Worten: Seit dem Ende des Kalten Krieges haben sich Amerikaner und Europäer in vielen sicherheitspolitischen Fragen auseinander gelebt. Kein Wunder also, dass vor diesem Hintergrund auch der transatlantische Diskurs über den Aufbau militärischer Kapazitäten der EU nicht störungsfrei verläuft.

Ziele der EU

Die EU strebt autonome Handlungsfähigkeiten an, die sich auf glaubwürdige militärische Fähigkeiten und geeignete Beschlussfassungsgremien stützen. Wichtig waren die Beschlüsse des Europäischen Rates von Helsinki im Dezember 1999. Dort wurde die Einrichtung eines ständigen politischen und sicherheitspolitischen Komitees mit Sitz in Brüssel vereinbart.

Es soll sich mit allen Fragen der gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik und der Europäischen Sicherheits- und Verteidigungspolitik befassen und im Falle der Durchführung von Krisenmanagement-Operationen im Einzelfall nach Vorgabe des Rates die politische Kontrolle und strategische Führung der Operationen wahrnehmen. Außerdem wurden ein EU-Militärausschuss und ein dort angesiedelter Militärstab eingerichtet. Da offen ist, ob die Umsetzung dieser Beschlüsse der Änderung des EU-Vertrages bedarf, wurde die Einrichtung dieser Gremien zunächst in Interimsform beschlossen.

Sichtbarster Ausdruck des Willens der EU-Mitgliedstaaten, eigene Krisenbewältigungskapazitäten aufzubauen, waren die in Helsinki vereinbarten Planziele: Bis zum Jahr 2003 soll die EU in der Lage sein, bei Krisenmanagement-Operationen Streitkräfte bis zur Korpsgröße (rund 50 000 bis 60 000 Soldaten einschließlich Kampfunterstützungstruppen und Logistik) und zusätzlich entsprechende Streitkräfteanteile von Marine und Luftwaffe innerhalb von 60 Tagen zu verlegen und eine entsprechende Operation für mindestens ein Jahr aufrechtzuerhalten.

Der EU-Gipfel in Feira im Juni 2000 widmete sich besonders dem nicht-militärischen Krisenmanagement. Dabei wurden die bis dahin in Kosovo gemachten Erfahrungen im Hinblick auf die Durchsetzung einer öffentlichen Ordnung beachtet. Analog zu den Helsinki-Beschlüssen im militärischen Bereich wurde in der portugiesischen Kleinstadt festgehalten, dass die EU-Mitglieder bis 2003 dazu in der Lage sein sollen, 5000 Polizisten für eine internationale Mission bereitzustellen. Spätestens innerhalb von 30 Tagen sollen 1000 Polizisten in einem Krisengebiet stationiert werden können. Außerdem sollen die EU-Staaten bereit sein, Richter, Staatsanwälte und Vollzugsbeamte zur Durchsetzung der öffentlichen Ordnung zu entsenden. Solche Operationen sollen entweder auf Anfrage der Vereinten Nationen oder der OSZE oder als autonome EU-Aktivität durchgeführt werden.

Motive

Warum will die EU eigene militärische und nicht-militärische Krisenbewältigungsinstrumente besitzen?

Der Politik Frankreichs kommt in diesem Zusammenhang sicherlich eine Schlüsselrolle zu. Paris ist traditionell seit den Tagen de Gaulles darum bemüht, Europa in der Außen- und Sicherheitspolitik stärker und insbesondere von Amerika unabhängiger zu machen. Dabei gilt es für französische Politiker als selbstverständlich, dass Frankreich bei der europäischen Außen- und Sicherheitspolitik eine Führungsrolle zusteht. Doch die langjährigen französischen Bemühungen, Europa und damit Frankreich mehr sicherheitspolitisches Gewicht zu verschaffen, scheiterten oft an hartnäckigem amerikanischem Widerstand sowie daran, dass Paris von den anderen EU-Mitgliedern nicht ausreichend unterstützt wurde.

Doch im Spätherbst 1998 hatte Paris - für viele ein wenig überraschend - einen neuen Verbündeten gefunden, um die europäische Sicherheits- und Verteidigungspolitik voranzutreiben: London. Überraschend deswegen, weil sich das Vereinigte Königreich im Gegensatz zu Frankreich traditionell transatlantisch orientiert und im Zweifelsfalle der Nato den Vorrang einräumt.

Wie ist der Schwenk der britischen Politik zu erklären? Tony Blair war 1997 als britischer Premier mit der Maßgabe angetreten, in Europa eine Führungsposition einnehmen zu wollen. Da sich Großbritannien von der Währungsunion selbst ausschloss, bot sich das Feld der Sicherheits- und Verteidigungspolitik geradezu an. Denn auf diesem Gebiet hat London nicht nur seinen Status als Kernwaffenstaat einzubringen, sondern auch seinen ständigen Sitz im UN-Sicherheitsrat in New York.

So vollzog Blair in der europäischen Sicherheits- und Verteidigungspolitik eine Kehrtwende. Sie wurde bei einem Treffen zwischen Blair und dem französischen Präsidenten Chirac im Dezember 1998 besiegelt. Bei dieser Zusammenkunft in St. Malo gaben die beiden Spitzenpolitiker eine gemeinsame Erklärung über die europäische Verteidigung ab. Darin forderten sie, dass die Europäische Union über eine autonome Handlungsfähigkeit verfügen müsse, um auf internationale Krisen reagieren zu können. Daher müsse die EU, um Entscheidungen treffen zu können, wo die Nato als Ganzes nicht betroffen ist, über die entsprechenden Strukturen verfügen und auch verstärkte militärische Kräfte aufbauen.

Die britische Regierung war von einem dreifachen Motiv bei ihrer Kehrtwende hin zu einer europäischen Verteidigungs- und Sicherheitspolitik geleitet:

- Sie wollte das eigene Gewicht in Europa stärker zur Geltung bringen;

- sie wollte darüber hinaus verhindern, dass unter französischem Einfluss die europäische Sicherheits- und Verteidigungspolitik eine Richtung einnehmen würde, die die Nato gefährden könnte;

- sie wollte durch ein stärkeres sicherheitspolitisches Profil ihren eigenen Einfluss in Washington erhöhen.

Frankreich seinerseits sah in der Erklärung von St. Malo in erster Linie eine Möglichkeit, unter Mithilfe Londons einen erneuten Anlauf für die Stärkung Europas und damit Frankreichs im Verhältnis zu den USA zu nehmen.

Die Annäherung der beiden militärpolitisch stärksten EU-Staaten Frankreich und Großbritannien war ein zentrales Moment für die allgemeine Zunahme der Bedeutung der EU-Sicherheits- und Verteidigungspolitik. Aber auch andere EU-Staaten, darunter Deutschland, hatten schon seit einiger Zeit besonders auf Grund der Balkan-Kriege die Notwendigkeit der Stärkung der EU auf dem verteidigungs- und sicherheitspolitischen Gebiet eingesehen.

Ein weiterer Grund ist in der Tatsache zu sehen, dass nach dem vorläufigen Abschluss der schwierigen Entwicklung hin zur gemeinsamen europäischen Währung der gemeinsamen Sicherheits- und Verteidigungspolitik mehr Aufmerksamkeit geschenkt wurde. Für viele - besonders in Frankreich - kam es dem nächsten logischen Schritt bei der europäischen Integration gleich, nach der Währung nun die Außen- und Sicherheitspolitik anzugehen.

Schon 1998/99 waren also wichtige Fundamente gelegt, um der europäischen Sicherheits- und Verteidigungspolitik neuen Schwung zu verleihen. Doch dann kam ein Ereignis hinzu, das der eigentliche Anlass zur Beschleunigung des Prozesses wurde: der Kosovo-Krieg. Wie in jedem Krieg wurden die Machtverhältnisse klargestellt.

Am Ende der militärischen Operation konnte kein Zweifel bestehen: Europa ist von den USA bei der militärischen Krisenbewältigung fast vollständig abhängig. Nicht nur flog die US-Luftwaffe neunzig Prozent der Einsätze, sondern das US-Militär dominierte auch die Aufklärung und damit die Zielauswahl sowie die Kommunikation. Wollten die EU-Staaten wenigstens mittel- bis langfristig ihren Einfluss erhöhen, mussten sie sich auf neue Initiativen nicht nur zur Verbesserung ihres eigenen Entscheidungsprozesses, sondern auch zur Stärkung ihrer militärischen Fähigkeiten einigen.

Nato

Die politisch brisanteste Frage bei diesem europäischen Projekt dürfte im Verhältnis der EU zur Nato und damit zu den USA zu sehen sein. Nicht wenige befürchten, europäische Bemühungen um mehr verteidigungspolitische Selbstständigkeit könnten die Atlantische Allianz in eine tief greifende Krise stürzen. Am Ende der Entwicklung könnte dann der Rückzug der Amerikaner aus Europa stehen. Wie also sieht das Verhältnis zwischen Nato und EU aus?

Zunächst ist weiterhin von unterschiedlichen Mitgliedschaften der EU und der Nato auszugehen. Es wird kaum gelingen, sie deckungsgleich zu machen. Die USA, Kanada und Island werden nicht der EU angehören. Auch Polen, Ungarn und Tschechien sind keine EU-Staaten, sie dürften aber in den kommenden Jahren aufgenommen werden. Sie stehen der europäischen Verteidigungs- und Sicherheitspolitik eher skeptisch gegenüber. Sie fürchten, bis zum Zeitpunkt ihrer vollen EU-Mitgliedschaft auf dem Gebiet der Verteidigung von europäischen Entscheidungsprozessen ausgeschlossen zu bleiben.

Besonders Warschau, aber auch Prag und Budapest versprechen sich einen wirklichen Schutz nur vom amerikanischen Bündnispartner. Ein Rückzug Amerikas aus Europa entspräche daher auf keinen Fall den Interessen dieser Staaten.

Die Nato-Staaten Norwegen und die Türkei werden der EU erst zu einem noch weiter in der Zukunft liegenden Zeitpunkt angehören (oder ihr, wie im Falle Norwegens, auf eigenen Wunsch hin weiter fern bleiben). Ihr Interesse besteht darin, durch EU-Entscheidungen, die in das Bündnis hineingetragen werden, nicht in der Nato marginalisiert zu werden. Norwegen hat darüber hinaus ein Interesse an amerikanischer Präsenz in Europa, um Russland im Hinblick auf die nordische Sicherheit ausbalancieren zu können. Ebenso sieht die Türkei in ihrer europäischen Randlage Amerika als den wesentlichen Garanten ihrer Sicherheit an.

Finnland, Schweden, Irland und Österreich - alle EU-Staaten - bestehen weiter auf ihren neutralen Status bzw. auf einen Status als nicht Allianz-gebundener Staat. Diese Länder unterstützen Bemühungen um europäische Krisenbewältigungsinstrumente, aber in keinem dieser Staaten gibt es eine Mehrheit für einen Nato-Beitritt.

Besonders die Haltung der USA zur europäischen Verteidigungs- und Sicherheitspolitik ist von Bedeutung. Dort mahnt man schon seit längerer Zeit verstärkte militärische Anstrengungen der Europäer an. In den USA stellen sich viele die Frage, warum das wirtschaftlich so starke Europa so geringe militärische Kapazitäten habe. Um die Stabilität der transatlantischen Beziehungen zu sichern, muss - so die vorherrschende Meinung jenseits des Atlantiks - die Last für die USA verringert werden.

Sollten die Europäer keine verstärkten Verteidigungsanstrengungen unternehmen, sehen einige die US-Militärpräsenz in Europa als gefährdet an. Jedenfalls werde es - so die Ansicht einiger amerikanischer Experten - die amerikanische Öffentlichkeit bei Kriseneinsätzen nicht noch einmal hinnehmen, dass die USA 90 % der militärischen Einsätze übernehmen, wie dies in Kosovo der Fall war.

Die USA wünschen, dass die Nato durch europäische Verteidigungsinitiativen stärker gemacht wird. Dies gilt sowohl militärisch als auch politisch. Militärisch sollen neue europäische Anstrengungen zu verbesserten militärischen Optionen führen, politisch soll die bessere Balance zwischen Europa und Amerika das Bündnis stärken. Mehr Europa in der Nato, aber kein sicherheitspolitisch völlig selbstständiges Europa, so könnte man die amerikanische Position beschreiben. So meinte der stellvertretende US-Außenminister Talbott unlängst, die USA wollten keine europäische Verteidigungsinitiative erleben, die erst in der Nato entstehe, dann aus der Nato herauswachse und dann sich von der Nato weg bewege.

Wie weit die Unabhängigkeit von der Nato bzw. den USA letztlich gehen soll, darüber sind sich die Europäer selbst keineswegs einig. Während besonders die Franzosen traditionell maximale Eigenständigkeit anstreben, legen andere - darunter Großbritannien und Deutschland - mehr Wert darauf, die Nato durch mögliche EU-Beschlüsse nicht in Frage zu stellen.

Der Europäische Rat von Helsinki hat dazu eine Kompromissformel gefunden, die auch die Amerikaner zunächst zufrieden stellte. Im Schlussdokument heißt es: "Der Europäische Rat unterstreicht seine Entschlossenheit, die Union in die Lage zu versetzen, autonom Beschlüsse zu fassen und in den Fällen, in denen die Nato als Ganzes nicht einbezogen ist, als Reaktion auf internationale Krisen EU-geführte militärische Operationen einzuleiten und durchzuführen."

Dies wird von den meisten Europäern dahingehend interpretiert, dass der Nato im Falle einer Krise das Recht der ersten Ablehnung zusteht. Erst falls die Nato nicht aktiv werden will, soll die EU aktiv werden können. Besonders Frankreich scheint sich damit jedoch nicht zufrieden geben zu wollen. Paris würde eigenständige europäische Entscheidungsstrukturen und eigenständige militärische Fähigkeiten bevorzugen. Auch ohne Zustimmung der USA handlungsfähig zu sein, darin besteht gerade das Ziel französischer Politik.

Es sind diese französischen Bestrebungen, die viele Amerikaner misstrauisch machen. Sie befürchten, dass die EU auf Grund des französischen Einflusses doch noch eine völlige Autonomie im Verhältnis zur Nato anstreben könnte. Warum aber pocht Washington so stark auf den Vorrang der Nato und ist skeptisch gegenüber europäischen Initiativen?

Von Seiten der US-Regierung wird befürchtet, starke europäische Autonomiebestrebungen könnten den amerikanischen Kongress dazu bewegen, den Abzug der US-Truppen aus Europa zu fordern. Entsprechende Stimmen sind auf dem Kapitolshügel schon seit einiger Zeit zu hören. Sie würden durch vermehrte europäische Unabhängigkeitsbestrebungen sicherlich an Bedeutung gewinnen. Eine solche Entwicklung wäre aber nicht im Sinne der US-Regierung, die jeden Isolationismus in der Außenpolitik ablehnt.

Außerdem möchte Washington auf jeden Fall verhindern, dass sich die Nato hauptsächlich auf die weniger wichtige Frage der Bündnisverteidigung hinsichtlich einer russischen Residualbedrohung konzentriert, während die EU die wichtigeren Missionen in Regionen ethnischer oder anderer Konflikte übernimmt. Dies wäre mit einem Verlust an amerikanischem Einfluss in Europa verbunden, der jedenfalls derzeit nicht gewollt ist.

Auch möchte Washington verhindern, dass sich die EU insofern die Rosinen aus dem Kuchen pickt, als die Europäer sich womöglich auf friedenssichernde Maßnahmen und nicht-militärische Krisenbewältigung konzentrieren, die Amerikaner aber immer dann gerufen werden, wenn es um Kampfeinsätze geht. Umgekehrt ist es auch nicht im amerikanischen Interesse, wenn die EU einen militärischen Kampfeinsatz beginnt, es sich aber dann herausstellt, dass die Kräfte dafür doch zu schwach sind. Für Europa in so einem Fall die Kohlen aus dem Feuer zu holen, das ist nicht die amerikanische Vorstellung künftiger transatlantischer Kooperation. Tatsächlich ist dies eine Hauptsorge in Washington: dass sich die Europäer zwar hohe Ziele setzen, letztlich aber nicht die Kraft zu vermehrten Verteidigungsanstrengungen aufbringen. Bis auf weiteres bleiben die Europäer ohnehin auf amerikanisches Material angewiesen, weshalb Washington es als sein gutes Recht ansieht, auch den Entscheidungsprozess bei möglichen Einsätzen mitzubestimmen.

Schließlich wollen die USA eine Marginalisierung der nicht EU-Staaten in der Nato vermeiden. Dies betrifft vor allem die Türkei. Sie ist auf Grund ihrer geostrategischen Lage ein wichtiger Bündnispartner Washingtons, dessen Einfluss auf europäische Belange schon deswegen nicht gemindert werden sollte, damit sich am Bosporus nicht doch die islamistischen Kräfte durchsetzen.

Aber auch die anderen Nato-Staaten, die nicht der EU angehören, hätten - so wird in Washington argumentiert - im Nato-Vertrag eine gegenseitige Beistandsverpflichtung akzeptiert. Diese würde im Falle eines EU-Militärengagements wirksam werden, falls die beteiligten Staaten nicht allein mit der militärischen Lage fertig würden. Insofern müssten die Nato-Staaten, die nicht der EU angehören, von vornherein in den Entscheidungsprozess einbezogen werden.

Viele dieser amerikanischen Einwände und Argumente sprechen dafür, die Beziehungen zwischen Nato und EU zu verbessern. Bisher hielt die EU zweimal pro Halbjahr formelle Treffen mit denjenigen europäischen Nato-Staaten ab, die nicht der EU angehören, um sie über den Fortgang der europäischen Verteidigungs- und Sicherheitspolitik zu informieren. Der Nato-Generalsekretär Robertson und der Hohe Repräsentant der EU für die GASP (Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik) Solana trafen sich informell zweimal monatlich.

Doch blieben diese Mechanismen unterentwickelt. Viele europäische Politiker, darunter auch in Deutschland, forderten daher einen verbesserten Dialog zwischen Nato und EU, ja sogar eine Formalisierung der Beziehungen. Diesbezüglich war Frankreich zunächst skeptisch. Es weigerte sich, gemeinsame Institutionen aufzubauen, solange die EU-Streitkräfteplanung noch nicht abgeschlossen ist. Offensichtlich fürchtete Paris den amerikanischen Einfluss auf europäische Belange. Die USA ihrerseits wollen militärische Nato-Geheimnisse nicht mit nicht Nato-Staaten teilen.

Auf dem EU-Gipfel in Feira im Juni 2000 wurden nunmehr ad hoc Arbeitsgruppen zwischen der EU und der Nato beschlossen. Sie sollen u. a. die Aufgabe haben, eine EU-Nato-Sicherheitsvereinbarung vorzubereiten. Außerdem sollen künftig regelmäßige Treffen zwischen den 15 EU-Staaten sowie denjenigen 15 europäischen Staaten, die in der Nato, aber nicht in der EU sind bzw. Aufnahmekandidaten der EU sind, stattfinden. Zusätzlich wurden regelmäßige Sitzungen zwischen den 15 EU-Staaten und den sechs europäischen Nato-Staaten, die nicht der EU angehören, vereinbart.

Offenbar um französischen Bedenken entgegenzukommen, wurde in den Leitprinzipien für alle Gesprächsformate festgehalten, dass der autonome Entscheidungsprozess der EU respektiert bleibt.

Schluss

Die EU hat sich auf den Weg gemacht, auch sicherheits- und verteidigungspolitisch an Bedeutung zu gewinnen. Dies ist auch dringend nötig, sollen künftige Krisen erfolgreicher bewältigt werden, als dies auf dem Balkan bisher der Fall war. Die EU hat sich sehr ehrgeizige Ziele bei der militärischen und der nicht militärischen Krisenbewältigung gesetzt. Sie müssen in den kommenden Jahren erfüllt werden.

Politisch bedeutsam werden die Beziehungen zur Nato und zu den Vereinigten Staaten sein. Europa sollte hier alles vermeiden, was zu einer ernsthaften Belastung der transatlantischen Beziehungen führen könnte. Denn Amerika bleibt bei der Bewältigung europäischer Krisen und Konflikte vorerst unverzichtbar. Mittel- bis langfristig kann eine Stärkung Europas zu einer Stärkung der transatlantischen Beziehungen führen. Denn eine Nato, in der das Gefälle zwischen den USA einerseits und Europa andererseits immer größer würde, wäre auf die Dauer zum Scheitern verurteilt.

Wichtig wird aber die Übergangsphase sein. Die Europäer sollten es vermeiden, durch zu weitreichende Rhetorik von einer sicherheitspolitischen Unabhängigkeit amerikanische Senatoren zu verschrecken, die dann im Gegenzug womöglich den Abzug der US-Truppen aus Europa fordern würden. Wesentlich dürfte auch ein verbesserter transatlantischer Dialog über diejenigen Fragen und Probleme sein, bei denen es in den letzten Jahren eher zur Entfremdung gekommen ist.

Dies betrifft in erster Linie die Herangehensweise an das Problem der Verbreitung von ABC-Waffen und weitreichenden Trägertechnologien. Die Rolle, die der Rüstungskontrolle dabei zukommen soll, bedarf dringend der Diskussion. Insbesondere muss vermieden werden, dass sich die derzeitige Debatte um die Raketenabwehr und der Prozess der Bildung eigenständiger europäischer verteidigungspolitischer Strukturen und Instrumente in einer Weise gegenseitig negativ verstärken, dass am Ende der Atlantik breiter wird.

Insgesamt werden sowohl Amerikaner als auch Europäer lernen müssen, sich allmählich auf unterschiedliche Rollenverteilungen einzustellen: die Europäer, mehr Verantwortung zu übernehmen, die Amerikaner, Macht im größeren Umfang als bisher zu teilen.