Neue Zürcher Zeitung, 24. Juli 2000 Schauplatz Türkei Die Christen der Türkei gehen auf die Missionsreisen des Apostels Paulus im hellenisierten Kleinasien zurück, oder aber sie entstammen den frühchristlichen Kirchen der Syrer und Armenier; Letztere feiern im kommenden Herbst den 1700. Jahrestag der Einführung des Christentums. Unter Herrschaft der osmanischen Sultane blieben diese Kirchen und die christlichen Kulturen von Griechen, Armeniern und Syrianern bis in die neueste Zeit erhalten. Erst in den letzten 200 Jahren haben die Sezessionen der Christenvölker - vom Griechenaufstand 1821 bis zum noch immer ungelösten Zypernproblem - den erklärt minderheitenfeindlichen Nationalismus der modernen Türkei heraufbeschworen. In dessen Folge wurden Millionen griechisch-orthodoxer und vor allem armenischer Christen massakriert und vertrieben, ein kleiner Rest wurde in Istanbul und Umgebung zusammengedrängt. Auch dort schien es bis vor kurzem nur mehr eine Frage nicht allzu langer Zeit zu sein, bis die verbliebenen 4000 Orthodoxen, 35 000 Armenier und ebenso vielen Syrianer völlig ausstürben. Von einem neuen Durchhaltewillen und von frischem kirchlichem Leben konnte sich aber nun vor Ort eine Delegation der Arbeitsgemeinschaft christlicher Kirchen in der Schweiz überzeugen. Die dieser Abordnung angeschlossenen Vertreter der christkatholischen, katholischen, methodistischen und reformierten Theologie aus Bern, Freiburg, Genf und Lausanne bekamen vor allem bei den Orthodoxen Impulse des theologischen Denkens zu spüren, deren Kraft angesichts der so schmal gewordenen Basis des ökumenischen Patriarchats erstaunen mag. Schönste Beispiele für die (doppelte) Aufwärtsentwicklung waren der Besuch und die Arbeitssitzung im byzantinischen Kloster Zoodochos Pege vor den Stadtmauern des alten Konstantinopel. An diesem Heiligtum, der «Lebenspendenden Quelle», wurden in Istanbul neues ostkirchliches Leben und Theologie geradezu greifbar. Das fast verlassene, verfallende Stift mit den Patriarchengräbern wurde in den letzten Jahren nicht nur renoviert, sondern vor allem als interorthodoxer Nonnenkonvent erneuert: Schwestern aus Griechenland, Polen und Rumänien wirken jetzt dort. Sie kümmern sich auch um orthodoxe Frauen, die von der Not im ehemaligen Ostblock zu Zehntausenden an den Bosporus gespült werden, wo sie meist nächtlichen Berufen nachgehen. Patriarch Bartholomaios I. - selbst die «Seele» des neuen Lebens der Orthodoxie in der Türkei - will daran etwas ändern, dass dieser Zustrom an Gläubigen zumeist fast nur bei kirchlichen Abdankungen für an Aids gestorbene oder von einem Freier ermordete Prostituierte manifest wird. Er hat diese besonders delikate Seelsorge daher den Schwestern unter Anleitung eines seiner Bischöfe anvertraut. Die gegenwärtige Krise der ökumenischen Bewegung der Christen war Hauptthema der Gespräche in Zoodochos Pege zwischen den Schweizer Kirchenvertretern und dem ökumenischen Patriarchen. Dabei trat die Notwendigkeit eines Weiterschreitens im Täglichen, Praktischen und Persönlichen trotz den sich auftürmenden grundsätzlichen Meinungsverschiedenheiten hervor. Der Präsident des Evangelischen Kirchenbundes der Schweiz, Thomas Wipf, hatte eingangs erklärt: «Wir hoffen, dass wir einen gemeinsamen Weg miteinander gehen können.» Patriarch Bartholomaios griff dies auf: «Es ist eine Tatsache, dass die befreiende Wahrheit manchmal zum Teil unterschiedliche Formen annimmt. Aber ihr Kern ist das Sein selbst, er kann daher nicht nur durch Geistes- und Kopfarbeit nahegebracht werden, sondern in erster Linie auf dem Weg der aszetischen und mystischen Erfahrung. Unser Herr Jesus Christus ist weder ein Gedankengebilde noch ein Phantasieprodukt, so dass man ihn als Idee oder Phantom in den Griff bekäme: Er ist eine lebende Person, die erreicht und erkannt wird, wenn jeder von uns sich seinem Nächsten nähert und zuwendet, wozu es keine Analysen und Verstandessynthesen braucht.» Auch der orthodoxe Oberhirte Polens, Metropolit Sawa Hrycuniak von Warschau, der an den Beratungen regen Anteil nahm, sprach von einer Stunde des «stillen, demütigen Ökumenismus». Wenn sich die Kirchenführer und Theologen wieder stritten, sei das Anliegen der christlichen Einheit umso mehr «drängende Forderung unserer Jugend». Vorwiegend aus Ost- und Südosteuropa kamen auch die 550 Teilnehmer am ersten orthodoxen Jugendkongress in Istanbul, der unter dem Vorsitz des Abtes von Zoodochos Pege stand, des Metropoliten Gennadios Limouris von Sasima. Dieses Treffen war ganz von der gesamtorthodoxen Reformproblematik geprägt und entwickelte sich zu einer Art jugendbewegtem «Vorkonzil» für die grosse Synode der Orthodoxie, mit deren Vorbereitung der Oberhirte des ökumenischen Patriarchen für die Schweiz beauftragt ist, Metropolit Damaskinos Papandreou. In dem Abschlussdokument dieser orthodoxen Jugendtheologie wurde deutlich, wie stark konservatives Gedankengut auch die jungen Ostchristen noch im- mer - oder schon wieder? - bestimmt. So wurde die Notwendigkeit unterstrichen, «das Wesentliche der orthodoxen Tradition intakt zu bewahren», und vor «forcierten Versuchen» gewarnt, bei der Sprache und den Texten der Liturgie Neuerungen vorzunehmen, die «den Charakter und die Inhalte des traditionellen Gottesdienstes verfälschen könnten». Hingegen erteilten die jugendlichen Delegierten «Fundamentalismus und heiligen Kriegen» eine klare Absage. Und sie bekannten sich zum interreligiösen Dialog. In diesem scheint, neben ihrem ökumenischen Rückhalt bei den stärkeren Glaubensgeschwistern, überhaupt die eigentliche Zukunft der wenigen in der Türkei noch lebenden Christen zu liegen. Auch der unter ihrem jungen Patriarchen Mesrob Mutafyan - zumindest auf den Prinzeninseln im Marmarameer - merklich aufblühenden armenischen Kirche und besonders den Syrianern von Metropolit Philoxenos Cetin in den Hintergassen des Istanbuler Armenviertels Tarlabasi sind - sogar in einer zur EU strebenden Türkei - enge, aus dem islamischen Recht stammende Grenzen gesetzt. So werden keine Neubauten von Kirchen und nicht einmal Erweiterungen bestehender Gotteshäuser gestattet. Seit bald 30 Jahren sind die Ausbildungsstätten aller Kirchen für ihren geistlichen Nachwuchs von den türkischen Behörden geschlossen. In der vereinsamten Aula der bekanntesten Lehranstalt, der orthodoxen Theologischen Hochschule von Chalki, informierten Metropolit Athanasios Papas von Heliopolis und der Metropolit der Schweiz die Gäste über die interreligiösen Dialoge der Orthodoxie und die Begegnung der drei monotheistischen Religionen. Zu diesem Thema wurde der frisch erschienene Band 2 der «Analecta Chambesiana» mit dem Titel «Dialog als Leitmotiv» überreicht. Er enthält in erster Linie religionswissenschaftliche Arbeiten von Metropolit Damaskinos. Ihre Quintessenz: Das Zusammenfinden mit dem Islam ist die eigentliche Überlebenshoffnung und Zukunftsaufgabe für das ökumenische Patriarchat in Istanbul - damit die Hagia Sophia, die Kirche war, Moschee war und derzeit sterilisiertes weltliches Museum ist, eines glücklichen Tages zum gemeinsamen Tempel aller werde, die den einen Gott suchen. Heinz Gstrein
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