Zofinger Tagblatt (CH), 26.07.2000, Aus dem Irak geflohen: Arams Reise in eine ungewisse Zukunft und seine Sehnsucht nach einer neuen Heimat franziska lüscher In der Dunkelheit der Nacht wägten sie sich einigermassen sicher. In dem kleinen Hinterhof eines seit Stunden geschlossenen Restaurants. Nur der Köter des Besitzers knurrte und fletschte die Zähne. Er duldete die Fremden nicht, die seine Nachtruhe störten. Dass er nicht bellte, war sein Glück. Man wollte kein unnötiges Risiko eingehen. Man hätte ihn sonst ohne zu zögern kalt gemacht. Verängstigt steigen ein paar Frauen und Männer dem LKW zu. Einer nach dem andern. Bevor Aram sich zu ihnen gesellen würde, liess er ein letztes Mal seinen Blick zum fernen Horizont schweifen. So, als könnte dieser seine Gedanken aufnehmen und forttragen zu den Seinen, die er verlassen hatte. Zu sehen gab es nichts. Es war finster und kalt. Winter eben. Dennoch verharrte er in dieser Position. Und nahm Abschied. Von der Heimat, die er und ein paar andere für immer verlassen wollten. Einer Heimat, die ihnen nicht den Halt, die Liebe, den Frieden und die Sicherheit bieten konnte, nach der sie sich sehnten. Es würde für immer sein. Schmerz zeichnete sich auf seinem Gesicht ab, er kämpfte gegen das Würgen im Hals an, konnte es aber nicht verhindern, dass sich verstohlen doch die eine oder andere Träne löste und ihre Spuren auf dem Gesicht hinterliess. Er schämte sich nicht. Schliesslich würde er sein Vaterland wohl kaum je wieder betreten können. Er dachte an all die Liebsten, die er zurücklassen würde. Die Familie, von der er sich nicht verabschiedet hatte. Es war besser, wenn sie nicht wussten, wo er war. Es war schon gefährlich genug, dass er im Untergrund arbeitete. Seine Eltern und Geschwister waren dadurch genug Gefahren ausgesetzt gewesen. Ob sie viel an ihn denken würden? Es war Wochen her, dass sie sich das letzte Mal gesprochen hatten, und auch da nur kurz. Er hört noch die Stimme seiner besorgten Mutter, die weinte. Würde er einen seiner Verwandten je wieder zu sehen bekommen? Oder war es ein Abschied für immer? Hatte er denn eine andere Wahl gehabt? Bis zuletzt hatte er geglaubt, für das Gute gekämpft zu haben. Bis er von seinen eigenen Kameraden verraten worden war. Gerade noch rechtzeitig hatte ihm ein Freund gesteckt, dass er das Weite suchen müsse, da ihm die Staatspolizei dicht auf den Fersen sei. Für Geld hatte man seinen Aufenthalt verraten. Und nun stand er hier. In diesem Hinterhof des alten Gasthauses, bei schummrigem Licht und einer Kälte, die einem den Atem hätte stocken lassen, hätte man auch nur eine Sekunde damit zugebracht, an Belangloses zu denken. Aber ganz andere Gedanken hielten Aram gefangen, sodass er der Kälte nicht gewahr wurde. Zu Fuss ist er über die Berge geflüchtet, wohin die Füsse ihn trugen, und schliesslich unbemerkt über die Landesgrenze in die Türkei gelangt. Nicht wissend, wohin die Reise ihn noch führen sollte. Er machte sich keine Vorstellungen von seiner Zukunft. Zu schnell hat sich in den letzten Tagen seine Lage verändert. Er hatte zwar zuvor schon gehört, dass immer wieder Menschen von ihren eigenen Sinnesgenossen für Geld verraten und an den Staat ausgeliefert worden sind. Und dann hat man sie nie wieder gesehen. Wieder andere flüchteten. Und manchmal glaubte einer von einem zu wissen, der es in den reichen Westen geschafft hätte. Aber das waren nur Gerüchte. Überprüfen konnte man es ja schliesslich nicht. Er selber hatte sich eigentlich nie Gedanken darüber gemacht, sein Land zu verlassen. Ganz andere Pläne beschäftigten ihn. Jemand gab Aram einen unsanften Schups, sodass er leicht zu stolpern begann. Aus einem Reflex heraus griff er an die Seite, wo üblicherweise sein Messer steckte. Ein Geschenk eines sterbenden Rebellen. Das lag fünf Jahre zurück. Doch Aram erinnerte sich daran, als wäre es gestern gewesen. Es war sein erstes Erlebnis mit dem Tod, das ihm arg zusetzte, gewesen. Denn der Rebell war sein Cousin und bester Freund gewesen. Heute glaubt er, dass ihn nichts mehr berühren oder ängstigen könne. Man gewöhnt sich an alles. Weiter kam er in seinen Gedanken nicht mehr. Sein Griff zum Messer ist nicht unbemerkt geblieben. Schon stehen zwei finster dreinschauende Typen neben ihm. Während ihm der eine die Hände auf den Rücken dreht, kommt ihm der andere mit dem Gesicht drohend nah: Er solle sich beherrschen, wenn er auf diesen Laster wolle, zischte ihm der Türke zu. Dann nimmt er ihm das Messer ab, begutachtet es und wirft es schliesslich seinem Komplizen zu. Ein dritter Türke gesellt sich dazu. Er musste der Anführer sein, denn er sprach etwas, worauf sich der Griff um Arams Handgelenke lockerte, um ihn freizugeben. Die Zeit drängte, sie mussten los. Schliesslich gab sich Aram einen Ruck, und er schlüpfte behende als Letzter in den LKW. Dabei spürte er den wissenden Blick des Fahrers auf sich, dann war die Plane auch schon unten. Jetzt war der Abschied endgültig. Ganz in der Nähe hört man, wie jemand eine Zigarette austritt und darauf seinem Partner etwas zuruft, worauf dieser unkontrolliert zu lachen beginnt. Schliesslich vernimmt man noch zwei Türen, die heftig zugeworfen werden, und kurz darauf dreht sich der Zündschlüssel im Schloss. Die Fahrt beginnt. Nur mit dem Nötigsten ausgestattet, tragen viele mehrere Schichten Kleider auf sich. Zusätzlichen Platz für Koffer gibt es nicht. Im Laderaum des LKWs ist es stickig. Und es riecht nach Schweiss. Niemand spricht. Jemand, der sich in Arams Nähe befindet, träumt angeblich und beginnt wild um sich zu schlagen. Es kümmert niemanden. Eigentlich glaubt Aram, dass gemeinsame Schicksale die Menschen verbinden. Aber hier drin, in diesem LKW, ist das nicht so. Niemand interessiert sich für den andern, woher er kommt, wohin er will, oder anderes. Überhaupt spricht man wenig miteinander. Zwischendurch flucht mal einer, wenn ihm auf die Füsse oder sonstwohin getreten wird. Im Allgemeinen bleibt es aber ruhig. Ab und zu wimmert eine Frau. Aber während der langen Fahrt gewöhnt man sich auch an dies. Aram will sie nicht trösten. Das hätte er selber gebraucht. Es ist eng und meist dunkel im Innern des Laderaums und man kann seinen Nachbarn bereits riechen. Überhaupt, das Schlimmste an der Überfahrt ist das Herumliegenmüssen und Warten, tagelanges Nichtstun, die Langeweile und der bestialische Gestank. Man hatte jedem einen Eimer mit Deckel gegeben, in welchen die Notdurft verrichtet werden musste. Denn raus konnte niemand. Das war zu gefährlich. Bis anhin hatte Aram geglaubt, allerhand gewohnt zu sein. Er hatte viel gesehen, Unerfreuliches und Hässliches während seiner Zeit als Rebell. Daher wunderte er sich über sich selbst, wie sehr ihn das Zuhörenmüssen, wenn andere mal müssen, ärgern konnte. Nur mit Mühe überwand er seinen Ekel, versuchte an schönere Dinge zu denken. Aber manchmal gab es Momente, in denen er das Gefühl hatte, die Decke falle ihm auf den Kopf in diesem Käfig. Momente, in denen er bereute, auf diesem Laster zu sein. Nicht wissend, wohin der fuhr, nur in den Westen. Manchmal, ja manchmal, wenn die Tage und Nächte kein Ende nehmen wollten in dieser Finsternis des Lastwagens, wenn er glaubte, die Luft ginge ihm aus und er sich nach Licht sehnte, dann nagten Zweifel an seinem Herzen. Er musste daran denken, was er alles hinter sich gelassen hatte für eine ungewisse Zukunft, und er ertappte sich bei dem Gedanken, ob der Tod nicht doch die kürzere, bessere Variante für ihn gewesen wäre, als hier in diesem dunklen, inzwischen verhassten Loch zu sitzen und die Stunden zu zählen, bis die Höllenfahrt endlich zu Ende war. Wie lange sind sie überhaupt schon unterwegs? Zwei, drei oder vier Tage? Eine Woche vielleicht? Aber nein, dann wären sie bestimmt schon in Europa angekommen. Das hätte er bestimmt gemerkt. Bei der ersten sich ihm bietenden Möglichkeit würde er aussteigen. Egal, in welchem Land er ankäme. Vielleicht wäre es Deutschland, oder Italien? Möglich wäre aber auch der Norden. - Was führten sie überhaupt für Fracht mit sich? Zitronen, Orangen, Gemüse? Nein, das glaubte er nicht. Davon hätten sie vielleicht etwas abbekommen. Aber sie lagen auf, zwischen und über Schachteln, die schwer waren und verpackt. Also konnte es nichts Essbares sein. Was wäre wohl die erste Mahlzeit, die er im fremden Land zu sich nehmen würde? Egal was. Er würde sich darauf freuen und es geniessen. Da war er sich sicher. Hier gab es täglich nur eine Ration Wasser und Brot für jeden von ihnen. Und das für umgerechnet 15 000 bis 20 000 Franken. Dafür hätte er eine Traumreise nach Europa machen können. Da ist er wieder, dieser bestialische Gestank. Aram sehnt sich nach frischer Luft, Sonne, Wind, Erde. Er erinnert sich daran, wie ganze Täler im Frühling von den süsslichen Mandel- und Zitrusblüten dufteten. Und wenn der Wind günstig stand, konnte man sie sogar bis in die Berge riechen, dort wo die Rebellen ihren Unterschlupf hatten. Ein einziges Mal lässt man sie für zehn Minuten rausgehen und die Beine vertreten. Es ist Nacht. Doch das kümmert Aram wenig. Hauptsache, frische Luft. Über ihm die Sterne. Und der Mond ist als Sichel erkennbar. Er geniesst den Augenblick. Sie waren irgendwo in den Bergen. Das sei noch immer die Türkei, sagte man ihnen. Aber sie hätten die Hälfte schon hinter sich. Zum ersten Mal betrachtet man sich genauer. Nicht dass es einen wirklich interessiert hätte. Aber was anderes hätte man in dieser Einöde schon tun sollen? Sie waren also zwölf. Davon zwei Frauen. Alle hatten verklebte Haare und rochen so furchtbar nach Fäkalien, Urin und anderem. Fast hätte man den andern bedauert, wäre man nicht einer von ihnen gewesen. Und jeder trug praktisch alles, was er an Kleidern hatte, auf sich. Mehrere Lagen also, vor allem die Frauen. Die Männer schienen weniger bei sich zu haben. Aber sicher war, dass jeder noch einen Notgroschen auf sich trug. Was, wenn man ihnen den abnehmen würde? Keiner hatte mehr eine Waffe, mit der er sich hätte verteidigen können. Besser nicht daran denken. Vielleicht kam es ja gut heraus. Wieso sollten sie nicht auch einmal Glück haben. Aber das war gestern gewesen. Inzwischen kommt ihm die Zeit in diesem dunklen Verliess schon wieder wie eine Ewigkeit vor. Manchmal glaubt er, er müsse verrückt werden hier drin. Gibt es Schlimmeres? Das hätte er sich früher überlegen müssen. Erneut kommen Zweifel bei ihm auf, ob er das Richtige getan hat. Doch schnell verdrängt er den Gedanken wieder und erinnert sich statt dessen an die Zeit zurück, als er mit seiner Lieblingsschwester Ajsha die Universität besucht hatte. Das war vor etwa zehn Jahren gewesen. Sie war damals 17 und wunderschön. Voller Liebreiz. Er hatte ihr nie gesagt, wie stolz er auf sie war. Ob sie es dennoch wusste? Aram hoffte es. Dann dachte er daran, wie er seinen Traum zum Beruf machen wollte: Lehrer. Englischlehrer an Primarschulen. Das ist er auch geworden. Doch schon damals war ihm klar, dass es nun zusehends schwieriger werden würde für ihn, denn er war Kurde an einer staatlichen Universität. Er wusste, dass er seinen Beruf nur würde ausüben können, wenn er sich Saddam Husseins Partei anschliessen würde. Das war ein hoher Preis, den nicht jeder zu bezahlen bereit war. Denn das bedeutete, dass man bereit sein musste, sein eigenes Volk zu verraten. Keinem Iraker käme es je in den Sinn, einen Kurden als echten Iraker zu akzeptieren. Im Gegenteil. Eigentlich hatten sie nie eine Chance gehabt. Diese überlaufenden Kurden wurden vom Militär dafür eingesetzt, gegen ihr eigenes Volk an vorderster Front zu kämpfen. Die systematische Auslöschung anderer Kulturen und Völker, vor allem der Kurden, im eigenen Land, wird gefördert! Ein freies Leben sabotiert. Hatte er dennoch falsch gehandelt? Hätte er sich Saddams Partei anschliessen und wider besseres Wissen hoffen sollen, dass er doch eines Tages ein normales Leben würde führen dürfen? Zweifel über Zweifel plagten ihn in diesen Minuten! Aber eigentlich glaubte Aram nicht wirklich an diese Möglichkeit. Bei diesen Gemetzeln zwischen Aufständischen und «Saddams Leuten» starben meist nur Kurden, da sie sich gegenseitig bekämpften. Denn die Übergelaufenen hatte man gezwungen, gegen ihr eigenes Volk zu kämpfen. Er hätte weder sich selbst noch sein eigenes Volk verleugnen können. Für Husseins Partei bedeuteten die Gemetzel unter Kurden nur Gewinn, er traf damit auf einen Schlag zwei Fliegen. Auf diese Weise wurden im Irak mehr als 4600 kurdische Dörfer zerstört und deren Menschen aufs Grausamste ermordet, zum Teil durch den Einsatz chemischer und biologischer Waffen. War es nicht doch ein Wunder, dass er noch am Leben war? Aram fühlte sich jung. Und er war voller Hoffnung, glaubte an eine Chance. Deshalb verliess er seine ganze Familie, zog in die Berge und schloss sich 1982 den dort ansässigen Rebellen, einer Geheimorganisation, an. Weil er für sich und sein Volk ein besseres Leben wollte, arbeitete er mit den Guerillas zusammen. Sein Idealismus brachte ihn so weit, dass er wirklich davon überzeugt war, diese Partei täte Gutes für sein Volk. Welcher Irrtum. Wie schmerzlich die Erfahrung, nur ausgenutzt worden zu sein. Aram erinnerte sich an eine Begebenheit, den Tag, als es ihm wie Schuppen von den Augen fiel: Niemand, aber auch gar niemand war da, um die minderprivilegierten Kurden zu schützen. Jeder vertrat nur seine eigenen Interessen. Und plötzlich steckt man selbst mitten im Sumpf. Man kann niemandem mehr trauen. Die Freunde von gestern wurden zu Feinden von morgen. Auch an ihm handelte man so. Es war gefährlich, aber nicht das Gefährlichste, nicht auf Saddams Parteiliste aufgeführt zu sein. Das bedeutete natürlich, dass man der Gegenpartei angehörte und somit bereits auf der «schwarzen Liste» stand. Aber das waren Tausende. Gefährlich wurde es erst, wenn der eigene Parteikollege gegen einen aussagt, für Geld! Es blieb ihm kein anderer Weg als die Flucht über die Berge, Richtung Westen. Im Irak würde es künftig kein Versteck mehr für ihn geben. Tränen rannen ihm erneut über die Wangen. Aber niemand konnte sie sehen. Keiner seinen Schmerz hören. Noch nicht einmal Allah. Als die Tür des Laderaums, die in die Freiheit führt, aufgeht, steigt nur Aram aus. Den Ersten, den er für einen Türken hält, spricht er an. Man antwortet ihm, er sei in Zürich. Es ist das Jahr 1997. Aram*) Name von der Redaktion geändert.
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